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202 Gberlaufltzev Helmatzettung „Dieses Plätzchen weih' ich dir, Weih' es dir und mir. Wenn mich Kummer niederbeugt, Wenn ich nirgends finde Ruh', Laus' ich nach dem Plätzchen zu, Und um's Herze wird mir's leicht." — Auch der „Tempel der Wahrheit" kann hier genannt werden (22). Das war eine einfache, aus Fichtenstangen gezimmerte und mit Schilf gedeckte runde Laube, die man mit einem auf die Idee zugeschnittenen Ritus eingeweiht hatte. Jeder Arme überreichte dem Grafen unter Aufsagen eines an „Selig sind die Barmherzigen ..." anknüpfenden Gedichtes ein Blumensträußchen und dann sang man unter Begleitung von Blasinstrumenten und dem Fließen eines respektablen Tränenstroms „Nun danket alle Gott..." Der Altar im Tempel trug unter der Widmung: ,,^ux Lmes bien kaiLuntes" (Den milden Seelen) den für unfern Zu sammenhang äußerst beweiskräftigen Spruch (mit Bezug auf den Grafen): „Im Glück seiner Brüder ist er glücklich." Ein Gleiches wissen die naiv charakterisierenden In schriften des in der Nähe der Marienmühle an der Straße nach Schönborn zwischen zwei pappelschlank gezogenen Eichen stehenden „Obelisken" zu rühmen (17), welchen die bäuerlichen Untertanen von Seifersdorf, Schönborn und Ottendorf dem Grafen Brühl 1784 weihten. Da heißt es u. a.: „Heil ihm, der gütig an uns denkt, Wie ein Bater an den Sohn!" oder: „Bricht jedem Hungrigen sein Brot, Fühlt fremden Schmerz und fremde Not." Schließlich gehört hierher der „ländliche Festsaal", der auf der großen Wiese hinter der Marienmühle stand, wie der 1833 dort aufgestellte vasengekrönte Gedenkstein angibt (20). Genau hieß er: „Tempel, Moritz und den ländlichen Freunden gewidmet" und war dem Grasen 1781 von seiner Gemahlin als Geburtstagsgeschenk erbaut worden. Seiner Zweckbestimmung gemäß war er in leichter Bauart gehalten. Rohe, mit Tannenzapfen dekorierte Baumstämme trugen als Säulen das Dach und sparten in der Mitte einen großen Raum aus, den Tanzsaal. Ein Kronleuchter aus Baumrinde und Tannenzapfen hing von der Decke herab, und außen auf dem Dache saß die Eule, der Bogel der griechischen Weisheitsgöttin Minerva; denn „Die Weisheit flieht die Freude nie, Sie lehrt das Leben erst genießen, Sie sucht und pflückt mit froher Müh' Die Blumen, die dem Tal entsprießen. Sie fliehet nur verbotne Lust, Nur Freuden, die das Herz vergiften, Und sucht, des reinern Glücks bewußt, Es nur auf unschuldvollen Tristen." 7. Rousseaus Botschaft von der Güte der Menschennatur Drei Elemente finden sich schließlich zusammen: ein Quentlein Moral Liu Gellert, eine Dosis Geßnersche Idyllen lust und die von der Empfindsamkeit so über die Maßen kultivierte Menschenliebe aus Rousseaus Hexenküche! Ganz nach Geßner duftet es, wenn Becker erklärt, der Tempel der ländlichen Freuden sei gewidmet „dem allgemeinen Vergnü gen, der natürlichen Fröhlichkeit, den anmutsvollen länd lichen Freuden, welche einfach und zwanglos zum wahren Genüsse des Lebens einladen, die jenen durch Aufwand und Pracht erkünstelten an Überfluß natürlich entstehender An- Nr. itz liisse zu frohen Gefühlen so weit überlegen sind, und doch so selten genossen werden." In erster Linie kommt es jedoch auf den hier am präg nantesten zu fassenden Begriff der Menschenliebe an. Wir haben festgestellt, daß bei den Denkmälern der Freundschaft der —sagen wir: metaphysische Kern ein Suchen war, ein Erkennenwollen des eigenen Wesens durch Eindringen in das Nachbarwesen. Dem stehen Wohltätigkeitstempel, Obe lisk und ländlicher Festsaal entgegen als Objektioationen des Gefundenhabens — der ersehnten Offenbarung. Rousseau hatte als belebendes Element in die Welt geschleu dert, daß der Mensch seinem innersten Kern nach g u t sei. Das war, wonach man lechzte ! Auch die Brühls sogen natür lich gierig von dem erlösenden Zaubertrank ein und ließen ihn unbewußt in all ihren Handlungen nachwirken. Und wenn nun jedes Jahr am 26.Iuli der gutsuntertänigen Be völkerung im ländlichen Festsaal ein Fest bereitet wurde mit Tanz, Trank und sorgloser Lust, wenn sich das gräfliche Paar, „im Glücke seiner Brüder glücklich", unter den Feiernden wie ihresgleichen bewegte, wenn dabei sämtliche Armen „unter beständiger Musik" gespeist wurden, so war das alles eben nur die Wirkung des Rousseauschen Zaubertrankes von der Güte der Menschennatur. Dabei bleibt es meines Erachtens, wie nahe auch die Annahme liegt, dies alles seien weise Vor beugungsmaßnahmen mit Rücksicht auf die bösen Anzeichen, die drüben in Frankreich die gewaltsame Emanzipation einer neuen Gesellschaftsschicht ankündigten. Selbst wenn der Wellenschlag der französischen Revolution bis in das Seifers- dorfer Idyll gedrungen wäre, wäre kaum zu glauben, daß er an dem dortigen Gebäude altüberkommener, patriarchalischer Verhältnisse auch nur das geringste hätte zerstören können. Fast möchte man sagen, daß Rousseaus Botschaft von der Güte der Menschennatur überhaupt erst das Fluidum ge wesen ist, das die typische Empfindsamkeit zum Leben brachte. Wenigstens gilt das mit Bezug auf unser Tal, in welchem die umfangreichsten von allen vorhandenen Anlagen bei der Analyse ihres Stimmungswertes unbedingt auf Rousseau- schen Geist als das wesentlichste beseelende Element führen. Wenn wir unmittelbar hinter der Marienmühle auf dem linken Flußufer zu der Stelle kommen, wo steil zum Wasser abfallende Felsen den Pfad zu versperren drohen, sind wir in der Nähe des Ortes, den ich hier im Auge habe. Denn die Höhe, zu der wir dort hinaufschauen, trug auf mächtigen, zum Teil noch erhaltenen Erd- und Steinterrassen die „Hütte des Pythagoras" (23). Hütte des Pythagoras? — Man denkt zunächst an das Prinzip der pythagoreischen Philosophie: die Zahl und die daran anknüpsende Zahlenmystik der Pythagoräer. Allein der ihr zugrunde liegende Gedanke führt sofort uü ub8urclum, da nichts unvereinbarer ist als empfindsames Seelenleben mit dem spinozistischen Einschlag und das Gesetz, daß vernünf tige Ordnung, Zusammenstimmung und Gesetzmäßigkeit in der Natur durch Maß und Zahl ausgedrückt und dargestellt werden könne. Und dennoch der Weise von Samos im Tal? Als Philosoph der Zahl, als welchen wir ihn heutigentags nennen, war er vor löOIahren unverständlich, vielmehr ver ehrte man ihn um seiner „guten und fruchtbaren" Sitten lehre willen, von der wir freilich nichts genaues wissen. Nur von einem Bund wird erzählt, den Pythagoras zur sittlichen und politischen Wiedergeburt derGriechenstädte Unteritaliens gestiftet haben soll, und unter dessen Mitgliedern, hervor gehend aus dem Glauben an die Güte der Menschennatur, die größte Wärme und Vertraulichkeit: die sprichwörtlich