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Die goldenen Dächer von Kirschau^ Bon Otto Flösse!, Bautzen (Schluß) andwerk hat goldenen Boden. Der Industriefleiß brachte Wohlstand in den Ort. Man sieht es auf einem Gange durch die Straßen, daß das Sausen der Maschinen die Armut aus den Häusern gejagt hat. Überall erblickt unser Auge neue Häuser. Von den armseligen Hütten aus früheren Jahrzehnten ist auch nicht eine mehr vorhanden. Da sind zunächst die vor nehmen Billen der Großindustriellen. Lange Zeit hindurch war die Friefesche Billa, das hohe weiße Haus an der Staatsstraße, das prachtvollste Gebäude des Dorfes. Vorübergehende blieben mit bewunderndem Betrachten daran stehen. Sie ist längst ausgestochen worden von moderneren Bauten. In unmittelbarer Nähe erhebt sich die im Jahre 1912 aufgeführte Pelzsche Villa, ein vornehmer Prachtbau, der schmuck sich in den weiten Park lagert und stolz mit Hellem Ziegeldach hinabschaut auf die unten vor überschäumende Spree und hinüber zu den freien Wald bergen der Bielebohkette. In so feudaler Umgebung konnte sich das alte Engertsche Haus nicht länger halten. Nach dem Vorbilde seines reichen Gegenüber wandelte es sich schnell in einen neuzeitlichen geschmackvollen Bau. Ganz hinten aber, wo der Wald das Dorf umsäumt, erhebt sich die andere Friesesche Villa. Hoch oben über den Häusern thront das wundervolle Haus und blickt hinunter auf die Fabriken. Ein Gleichnis: Es ist aus ihnen herausgewachsen. Aber auch die Wohnstätten der Arbeiter haben ein neues, freund liches Gesicht bekommen. Unter Beteiligung der Gemeinde wurde im Jahre 1919 eine Baugenossenschaft gegründet, die seitdem eine rege Tätigkeit entfaltet hat. Mit der an sehnlichen Summe von rund 15 Millionen Mark hat sie bisher 110 Wohnungen erstellt. Mit zwei stattlichen Kolo nien hat sie zum Wachstum und zur Erneuerung des Ortes ein gut Stück beigesteuert. Die eine ist die nach Wilthen zu gelegene Kriegersiedelung mit 16 Wohnungen. Zu jedem der schmucken Einfamilienhäuser gehört ein halber Scheffel Land, unmittelbar vor den Fenstern gelegen. Die andere hat sich im Osten aufgetan. Dort, wo vor drei, vier Jahren noch ein schmutziger Feldweg von der Straße über Sturz äcker nach dem Bache hinuntersührte, steht heute — fast ein Dorf für sich — ein Dutzend Heller Häuser. Der kümmer liche Feldweg ist zur breiten, glatten Straße geworden. Zufrieden kuscheln sich die Häuser an den sanft geneigten Hang und schauen mit lichten Fenstern über Wiesen und Felder hinein in ein bergwaldumfriedetes Tal. Ein freund liches Dorfeck, diese Siedelungl Die Hellen Wände und roten Dächer im Grün von Wiesen und Wäldern, das ist ein warmer Gruß an den Wanderer. Fast wären die Häuser dem alten Gemeindeamt „über den Kopf gewachsen". Da war es höchste Zeit, auch hier ein neues Gebäude zu schaffen. Das steinalte, bescheidene Schul haus bot längst nicht mehr genügend Raum für die Ver waltung des rasch ausblühenden Industrieories. Im Jahre 1920 wurde der Umbau beschlossen. Noch im selben Jahre war er fertiggestellt. Mit der für heutige Verhältnisse ge ringen Summe von 700000 Mk. hat der Dresdner Archi tekt I.A.Bohlig, dem Kirschau eine ganze Reihe von Neu- bauten verdankt, ein geschmackvolles Bauwerk geschaffen. *) Quelle u. a. „Hrimatbuch von Schirgiswalde, Kirschau und Crostau- »on Fr. Rösler. Man erkennt in dem Neuen das Alte nicht wieder. Eine gewisse architektonische Schwierigkeit bestand darin, dem alten, gänzlich glatten Gebäude seinen bisherigen Charakter zu nehmen und dem Umbau an der Straßenecke durch einen einspringenden Winkel eine interessantere Dachausbildung, ein dominierendes Gepräge an der spitzwinkligen Straßen ecke zu geben. Das schwierige Problem hat der Meister glänzend gelöst. Durch die von ihm mit sachkundiger Hand gewählte Architektur ist der Bau deutlich als Sitz der Orts behörde gekennzeichnet. Das Außere ist an sich einfach ge halten. Nur über den bunten Fenstern des Sitzungssaales zeigt es ein wenig künstlerischen Schmuck. Der Haupt eingang ist jedoch, in gedanklicher Anlehnung unseren mittel deutschen Rathäusern folgend, etwas reicher ausgestaltet. An Kapitäl und Bogen weisen kleine Embleme auf den Zweck des Gebäudes hin. Uber dem Eingang aber sitzt ein Sandstein-Putto mit dem Weberschiffchen auf dem Scheuer tuch-Ballen. Ein sinnvoller Scherz des Dresdner Bild- Hauers Türke. Man kann sich des Lächelns nicht erwehren, wenn man den Schalk da oben betrachtet, der lachend auf seinem Stoße Scheuertücher herumreitet. Der hat gut lachen. Er könnte das Sinnbild Kirschaus sein. Durch Scheuertuch hochgekommen, das trifft ja auch aus das Dorf zu, das nun obenauf ist unter allen Lausitzer Orten. Vielleicht aber könnte es auch der Sandstein über dem Eingang der gegen- überliegenden Löbauer Bank sein, der wohlleibige stramme Bengel, der sichs zwischen Bienenkorb und pralldickgesülltem Geldsack wohl sein läßt. Man lacht, wenn man ihn schaut, und das Herz lacht einem im Leibe, wenn man den auf strebenden Ort durchwandert, der lacht ja auch, lacht einem auf Schritt und Tritt entgegen in Wohlstand und gesundem Wuchs. Und wie das Gemeindeamt immer und überall eia Spiegel der Verfassung des Gemeinwesens ist, so auch in Kirschau. Das Innere zeigt allenthalben die straffe, künst lerische Disziplin, die für Verwaltungszwecke geboten ist. Im Erdgeschoß liegen die Berwaltungsräume, von denen neben dem geschmackvoll und traulich eingerichteten Amts zimmer des Gemeindevorstandes besondere Beachtung da» Standesamt verdient, ein kleiner Raum, der mit dem schlichten, ganz auf seinen Zweck eingestellten Ton einen unvergeßlichen Eindruck hinterläßt und so seine Bestimmung in selten schöner Weise voll und ganz erfüllt. Auch ein öffentliches Lesezimmer ist im Erdgeschoß eingerichtet. Alle größeren Tageszeitungen und eine reiche Zahl Heimatzeit- schrtften liegen hier aus. Erfreulicherweise zeigt der Raum einen regen Besuch, ein gutes Zeichen für den Btldungseifer der Bevölkerung. Die große Gemeindebücherei ist ihm an gegliedert. Uber 2000 Bände umfaßt sie. Man muß sich ein Dorf von der Größe Kirschaus suchen, das eine so stattliche Bücherei aufzuweisen hat. In allem und jedem erkennt man eben den bis ins Mark hinein gesunden Kern des glück- haften Ortes. Man hemmt unwillkürlich den Schritt, wenn man den weiten Sitzungssaal im ersten Stock betritt. Wennschon man weiß, daß Kirschau sich diesen und jenen Luxus leisten kann, etwas derartig Prachtvolles erwartet man doch nicht. Reich ist er gehalten in hohen bunten Fenstern, in warmer Wandbekleidung, stattlicher Ausmalung, prunk- haften Leuchtern, geschmackvollen Ausstattungsgegenständen und künstlerischen Schmuckstücken, alles Stiftungen der In dustriellen des Ortes. An geeigneter Stelle schmückt ihn ein großes Gemälde des Dorfes aus der Hand des Dresdner Kunstmalers Birnstengel. Wieoiele Millionen ruhen allein in diesem Saale. Es ist gewiß in Sachsen keine Dorf gemeinde, die solch einen Sitzungssaal aufzuweisen vermöchte.