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816 und Lust in Linchen- Busen, der für solche Bekenntnisse von jeher sehr empfänglich war. „Und nun stehe ich al< Herkules am Scheidewege!" schloß Sinchen und überreichte der athemlosen Freundin die Anmeldung Heinrichs mit so feierlichem Ernste, als ob es eine telegraphische Depesche sei. daß die Franzosen über dm Rhein gegangen. „Der?* rief Linchen und holte tief Athem. „Was sagst Du nun? Warum sagst Du Der? Warum holst Du so tief Athem?" „Ich dachte, es wäre Gustav! Aber ich wünsche Dir von ganzem Herzen, von ganzer Seele Glück? Und nun muß ich fort!" Linchen umarmte Sinchen, nannte sie glückliche Braut und huschte fort, und auf dem Heimweg« fand sich dreimal Gelegen heit, die frohe Mähr einer Freundin mitzutheilen, so daß bis 10 Uhr Abends ungefähr dreiunddreißig Familien von „dem öffent lichen Geheimnisse" unterrichtet waren. Sinchen, die ein und dreiviertel Jahr jünger als Linchen und acht und zehnzwölftel Jahr älter war als Finchen, fühlte, daß sie rathlos und nur auf sich gewiesen sei, und daß es überhaupt in schwierigen Lebenslagen einer Jungfrau nur einen einzigen Rath geber gebe, der zwar für seine Orakel keine Garantie übernimmt, aber, wie die Buchbinder im Rathhause sagen, in keiner Familie fehlen sollte. Sinchen ging also an ihr geheimes Fach, nahm ein ältliches Büchelchßn heraus und — punctirte, bis der Vater kam, bei dessen Eintritt das Büchlein schnell verschwand, weil er vor'm Jahre eine frühere Auflage consiScirt hatte. Aber Sinchen hatte bereits Antwort auf alle Fragen, sie war im Klaren. Auf die Frage, ob Auguft's Grundstück sie glücklich machen werde, hatte das Orakel geantwortet, es sei zweifelhaft; dann hatte sie gefragt, ob sie auf den schönen Gustav hoffen und harren solle — Antwort: es sei unsicher; endlich kam auf die Frage, ob Heinrich ein guter Mann und sie eine glückliche Frau sein werde, die Ant wort, daß man nichts Gewisses darüber wisse. Die Orakelsprüche waren demnach entschieden zu Gunsten Heinrichs ausgefallen, und Sinchen fing an, für ihn Liebe zu fühlen. Heute war nun dieser wichtige Sonntag, heute sollte Er kom men, und jetzt, wo Sinchen vor dem Toilettenspiegel mit goldenem Kamme die goldenen Haarwellen den Nacken hinabkämmte, fiel ihr plötzlich Etwas ein. „ Herr Je", sagte sie und hielt mit Kämmen ein, „Er hat gewiß mit seinem vieuärui äHK" auf heute versteckt angespielt!" Und nun schien ihr der geschossene Bock nicht mehr so grausam. Hier wäre eine kleine Betrachtung einzuflechten, eine kleine Vorlesung über das oft gesprochene Ur- theil: „Ich kann ihn nicht leiden'" Aber die lieben Kinder, deren Denken und Thun ich photographiren möchte, lieben solche stark retouchirte Bilder nicht, und warum-soll ich mir auf meine alten Tage die lieben Kinder zu Feindinnen machen? Im Hotel de Saxe will ich auch nicht gerade einen Vortrag halten; denn zu einem Glase Bier passen die Vorträge von Strack, Stahlheuer, Music und Ring besser als der über „das weibliche Herz." Ich halte deshalb meine Vorlesung lieber nicht und verweise auf meine „Briefe für's Haus" in dem Jahrgange 1858 dieses Blattes. Heinrich war unterdessen auch nicht faul gewesen. Er hatte eine reifere Tante, die den guten Jungen als Sohn betrachtete, und mit dieser reiferen Tante hatte er auch einen Familienrath gehalten. „Ich habe gegen Deine Liebe und Deine Melusine nichts", hatte sie gesagt, „aber jetzt kriegst Du von mir nichts; jetzt hole Dir eine Frau, die wenigstens so viel hat, wie Du einst haben wirst, wenigstens, Heinrich, wenigstens!" Das brave Fräulein — sie war Fräulein — dachte praktisch, wie man überhaupt in Leipzig praktischer als in Dresden zu den ken pflegt; aber MelusinenS Vater dachte freilich auch praktisch. Der hatte gesagt: „Mach' was Du willst, aber jetzt kriegst Du von mir nichts. Abgemacht! Puff!" Gegen eilf Uhr zog der Vater den Frack an; die Mutter rauschte im schwarzseidenen und Sinchen schwänzelte auf Geheiß der Aeltern nach der Küche. Sie hatte eine Küchenschürze vor gebunden und sah sehr niedlich aus. Mit dem eilften Schlage — dir Rathhausuhr ging heute 1»/,' Secunde vor — klingelte Heinrich. Er hatte ungefähr 420 Sekunden auf der Treppe gestanden und darauf gewartet. Rieke, die natürlich die ganze Geschichte wußte, riß mit Vehemenz und glänzend von Freude und Bratendunst die Thüre auf und Heinrich zähneklapperte in die gute Stube. Er sprach zwar geläufig deutsch, aber gerade heute nicht, dmn als er die Güte gehabt hatte, sich vor dm Aeltern niederzulassen, wußte er dm Anfang der Rede nicht, die er zu halten hierher gekommen war. Da fiel ihm nach einem unverständlichen Gemurmel noch glück lich die ganze Seele und das ganze Herz ein, über die er sich noch nicht gründlich hatte aussprechen können, und so kam er nach und nach in die Schnurre. „Das ist Alles recht gut, Alle- recht schön, lieber Herr Hein rich", sagte der angehende Schwiegervater, der dm varvu» r*rnm nicht erwarten konnte und auch noch zum HonntagSvormittags Laubenheimer gehm wollte; „Alle- recht schön. Sie sind auch ein ganz lieber Mensch, aber wie steht «S »it dem oervu» roruw, was haben Sie, was können Sie, was wollen Sie beginnen?" Es kam Heinrich zwar vor, als ob der nervus mit der Thür ins Haus fiel, aber er war doch gerappelt, seine reifere Tante hatte ihn zu gut vorbereitet, und so unterbreitete er dem alten Herrn seine An- und Aussichten über die ganze Zukunft, und im Laufe deS Gesprächs entwickelte sich die sanfte Schüchternheit zu so männlicher Offenheit, daß, als Heinrich endlich auf den nsrvns kam, der alte Herr schüchtern wurde. „Ich liebe Ihre Tochter von ganzer Seele, aber ich habe kein Vermögen!" platzte Heinrich zum Schluß heraus, so daß der Papa die Augenbrauen sehr hoch zog und die wohlorientirte Mama erblaßte. „Einst, wenn meine Tante ..." wollte Heinrich fortfahren. „Ach was, meine Tante, Deine Tante!" unterbrach ihn der Papa kopfschüttelnd. „Das ist Alles recht schön, Alle- recht gut, aber ich habe auch kein Vermögen und ..." „Sie — kein — Vermögen?" fragte Heinz, der über den altm reichen Herrn wohlorientirt war. „Nein, liebster Nestor, und auch keine Tante!" „Dann entschuldigen Sir!" „Bitte recht sehr! War mir recht angenehm!" „Empfehle mich, die lieben Jhrigm inbegriffen!" „Werde es zu rühmen wissen!" Es war das ein kleines Doppelmißverständniß zwischen zwei praktisch Denkenden. Wink für Hausbesitzer. In der neuesten Nummer des „Schlesischen JndustrieblatteS" macht Jemand den, wie es uns scheint, sehr beachtenSwerthen Vorschlag, die vorgeschriebene Freihaltung der Trottoir- von Eis und Schnee, das Bestreuen der ersteren im Winter so wie das Reinigen der letzteren im Sommer, durch die ganze Stadt zu organisiren. Der betreffende Artikel weist nach, daß die an sich durchaus gerechtfertigte und nothwendige Vorschrift des AufeisenS, Streuens rc. doch für diejenigen Hausbesitzer, welche nicht eigene Leute haben, sondern dabei auf Tagelöhner ange wiesen sind, zu einer drückenden Last wird, weil sie nicht stet- das Mittel in der Hand haben, die genaue und pünktliche Befolgung der polizeilichen Anordnung zu erzwingen und so häufig ohne ihr Verschulden straffällig werden. Es wird auf eine größere Stadt hingewiesen, wo die Commune die Sache der Art in die Hand genommen hat, daß sie ein Personal dafür anstellte, welche- die in Rede stehende Reinhaltung rc. besorgt, wofür der Hausbesitzer, der von diesem Dienste Gebrauch machen will, je nach Länge seiner Hausfront ein Entgelt zahlt. Der oben erwähnte Vor schlag geht jedoch dahin, die Communalverwaltung nicht noch mit einem neuen Zweige zu belasten, sondern fordert entweder eine Association der Hausbesitzer für den Zweck, oder das Auftreten eines Unternehmers, welcher die Sache orga- nisirt. Daß die* Hausbesitzer mit Freuden zugreifen werden, unterliegt keinem Zweifel. Aber auch dem Aussehen der Stadt im Ganzen kann es nur von Vortheil sein, wenn die Reinigung und Sicherung der Passage geordnet und systematisch auSgeführt wird. Ebenso würde den Polizeibeamten ein sehr unerquicklicher Dienstzweig wesentlich erleichtert werden. Eine Betrohung der Tagearbeiter liegt ebenfalls nicht vor, da ja der Unternehmer die einschlagenden Arbeiten nicht selber verrichten kann, sondern die selbe Summe von Arbeitskraft dafür gebraucht wird, wie bisher. Einsender hat nicht unterlassen wollen, auf den auch für Leipzig wichtigen Gegenstand, namentlich auf die beregte Bil dung einer Association zu dem angegebenen Zwecke auf merksam zu machen, da es auf der Hand liegt, daß eine solche Association der Hausbesitzer denselben wesentliche Vortheile bietet. ». Zur Tageschronik. Leipzig, den 3. Febr. Gestern ist bei Wahren der Leichnam des seit dem 14. Novbr. vor. I. vermißten 14jähr. HandlungS- lehrlingS H. im Wasser aufgefunden worden. ES fehlt auch jetzt noch an jedem bestimmten Anhalte darüber, ob H. durch einen unglücklichen Zufall um da- Leben gekommen ist oder ob et den Tod absichtlich gesucht hat. Verschiedenes. Ehemalige Urtheile über Mozart. Ein Wiener Musiker schrieb: „ Schade, daß Mozart sich in seinem künstlichen und wirk- lich schönen Satze, um ein neuer Schöpfer zu werden, zu hoch versteigt, wobei freilich Empfindung und Herr wenig gewinnen. S^ine neuen Quartette find.doch wohl zu stark gewürzt, denn