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31 leicht ein schädliches Uebergewicht. Dann wird menschliche Freude thie- rischer Genuß; der Geschmack verschwindet, oder erhält unnatürliche Rich tungen. Bei diesem letzten Ausdruck kann ich mich jedoch nicht enthalten, vorzüglich in Hinsicht auf gewisse einseitige Beurtheilungen, noch zu be merken, daß nicht unnatürlich heißen muß, was nicht gerade diesen oder jenen Zweck der Natur erfüllt, sondern was den allgemeinen Endzweck derselben mit dem Menschen vereitelt. Dieser aber ist, daß ein Wesen sich zu immer höherer Vollkommenheit bilde, und daher vorzüglich, daß seine denkende und empfindende Kraft, beide in verhältnißmäßigen Graden der Stärke, sich unzertrennlich vereine. — Es kann aber ferner ein Miß- verhältniß entstehen, zwischen der Art wie der Mensch seine Kräfte aus- bildet, und überhaupt in Thätigkeit setzt, und zwischen den Mitteln des Wirkens und Genießens, die seine Lage ihm darbietet; und dies Miß- verhältniß ist eine neue Quelle von Nebeln. Nach den im Vorigen aus geführten Grundsätzen aber ist es dem Staat nicht erlaubt, mit positiven Endzwecken auf die Lage der Bürger zu wirken. Diese Lage erhält daher nicht eine so bestimmte und erzwungene Form; und ihre größere Freiheit, wie auch daß sie in eben dieser Freiheit selbst größtentheils von der Denkungs- und Handlungsart der Bürger ihre Richtung erhält, vermindert schon jenes Mißverhältnis Dennoch könnte indeß die immer übrig blei bende, wahrlich nicht unbedeutende, Gefahr die Vorstellung einer Roth- Wendigkeit erregen, dem Sittenverderbniß durch Gesetze und Staats einrichtungen entgegen zu kommen. Allein, wären dergleichen Gesetze und Einrichtungen auch wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genöthigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein, er würde mir immer ein Haufen ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur wo sie die Grenze des Rechts übertreten gebundener, Menschen scheinen. Bloß gewisse Handlungen oder Gesinnungen heroorzubringen, giebt eS freilich sehr viele Wege. Keiner von allen aber führr zur wahren mora lischen Vollkommenheit. Sinnliche Antriebe zur Begehung gewisser Handlungen, oder Nothwendigkeit sie zu unterlassen, bringen Gewohnheit hervor; durch die Gewohnheit wird das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben verbunden war, auf die Handlung selbst übertragen, oder die Neigung, welche anfangs nur vor der Nothwendigkeit schwieg, gänzlich erstickt: so wird der Mensch zu tugendhaften Handlungen, gewissermaßen auch zu tugendhaften Gesinnungen geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird dadurch nicht erhöht; weder seine Ideen über seine Bestimmung und seinen Werth erhalten dadurch mehr Aufklärung, noch sein Wille mehr Kraft, die herrschende Neigung zu besiegen: an wahrer, eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer also Menschen bilden, nicht zu äußern Zwecken ziehen will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, daß Zwang und Leitung nie Tugend Hervorbringen, so schwächen sie auch noch immer die Kraft. Was sind aber Sitten, ohne moralische Stärke und Tugend? Und wie groß auch das Ucbel des Sitten- verderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heilsamen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen zu der Weisheit und Tugend