62 Der Anblick der Steppen. ewigem Eis starrende Gebirge: ein paar Tropfen Pflan zensaft führen nns die ganze Macht und Fülle der Natur vor das innere Auge. An der kahlen Felswand wächst ein Baum mit trocknen, lederartigen Blättern; seine dicken holzigen Wurzeln dringen kaum in das Gestein. Mehrere Monate im Jahre netzt kein Regen sein Laub, die Zweige scheinen vertrocknet, abgestorben; bohrt man aber den Stamm an, so fließt eine süße nahrhafte Milch heraus. Beim Sonnenaufgang strömt die vegetabilische Quelle am reichsten; dann kommen von allen Seiten die Schwar zen und die Eingebornen mit großen Näpfen herbei und fangen die Milch auf, die sofort an der Oberfläche gelb und dick wird. Die Einen trinken die Näpfe unter dem Baume selbst aus. Andere bringen sie ihren Kindern. Es ist, als sähe man einen Hirten, der die Milch seiner Heerde unter die Seinigen vertheilt." „Freilich", setzt Humboldt hinzu, „bedarf es in einem Lande mit solcher Vegetation dringender Beweggründe, soll der Mensch sich der Arbeit ergeben, sich aus seinem Halbschlummer auf rütteln, seine Geistesfähigkeiten entwickeln." Am 10. März betraten unsere Reisenden die Steppen oder Llanos von Caracas. Die Ebenen ringsum schie nen zum Himmel anzusteigen, und die weite unermeßliche Einöde stellte sich ihren Blicken als eine mit Tang und Meeralpen bedeckte See dar. Durch den trockenen Nebel und die Dunstschlchten gewahrten sie in der Ferne Stämme von Palmenbäumen, die, ihrer grünenden Wipfel beraubt, wie Schiffsmasten erschienen, die am Horizont auftauchen. „Der einförmige Anblick dieser Steppen", sagt Humboldt, „hat etwas so Großartiges, aber auch etwas Trauriges und Niederschlagendes. Es ist, als ob die ganze Natur erstarrt wäre; kaum daß hin und wieder der Schatten