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Redaktioneller Teil. /1k 275, 27, November 1914, ren sie den Mund weit auf. Selten Halls mich so gepackt in all den Tagen seit August wie hier. Unermüdlich wirrem Lied nach dem andern angestimmt, und noch über dem eintönigen Rollen des ausfahrenden Zuges flattert das helltönende Band, — Wenn der Lehrer wüßte, welche Freude er dem einen oder andern Verwun deten gemacht hat mit seiner Kinderschar (die braven bayerischen Landwehrleute interessierten natürlich die Liebesgaben weit mehr), seine verlorene Orthographie- oder was sonst für eine Stunde würde ihm wahrlich nicht leid sein, — Rast auf einer belgischen Landstraße, Hart rechts am Gra ben die endlose Reihe der Gewehrpyramiden. Die Kompagnie im Graben, auf der Böschung, oben am Feldrain, verstaubt, müde. Einer stürzt ins Rübenfeld, wirft Gepäck und Koppelzeug ab, dann rutscht die Hose, dann sinkt er selbst in sich zusammen, und nur ein Dukatenmännchen mit dickem roten Kopf ragt aus dem Rüben kraut. Dann verschwindet alles hinter einem entfalteten Zeitungs bogen, Gelegenheit zu Schabernack läßt kein Soldat leicht vor- übergchen. Klatschend fällt eine Rübe in der Nähe des Zeitungs bogens nieder. Der senkt sich, der rote Kopf meldet wie auf dem Schietzstande: »Links kurz« und sieht dem Kommenden gleichmütig entgegen. Und schon saust wieder eine von den fast ausgewachsenen Rüben mit dem großen Blätterbüschel wie ein Komet über den Drucksenden: »Hoch rechts« meldet der unerschütttert. Es liegt schon längst keiner mehr am Straßenrand, alles steckt den Kopf über die Böschung und lacht sich schief. Die vorn und hinten an schließenden Kompagnien werden aufmerksam. Alles lacht. Die Offiziere winden sich auf ihren Pferden, Der im Felde bleibt un bewegt, schaut mit großen glotzenden Augen wie eine Kröte auf die Bombenwerfer — und meldet. Immer näher rücken sie ihm auf den Pelz, Auf der Galerie wird's immer lebhafter und lusti ger, Schließlich kommt ein wohlgezielter Wurf, Eine schnelle Bewegung bewahrt den Beschossenen vor einem Volltreffer, der ihm, der so schon mühsam balanziert, verhängnisvoll hätte wer den müssen, Run wird's ihm doch zu bunt. Er schwenkt die Zei tung, die Weiße Flagge. Ein ehrenvoller Abzug wird ihm unter tosendem Beifall bewilligt, — Das wäre eigentlich etwas für Wil helm Busch gewesen. Mein Vater schreibt heute: »Hat Gerhard (mein kriegsfrei- williger Bruder in Rußland) schon an Dich geschrieben? Er liegt verwundet in der Kriegsschule in Bromberg, Schuß durch die linke Hand ohne Verletzung von Sehnen und Knochen (wobei ich ihn im Verdacht gelinden Schwindelns habe), Streifschuß am Kopf und am rechten Zeigefinger, Er hat mit seinen Wunden weitergeschossen, bis ihm das Gewehr aus der Hand und in Trümmer geschossen worden ist. Das Gefecht hat bei Grajcwo stattgefunden,« — Der Bengel hat doch Glück gehabt, daß er jeden Wischer hat vollgültig heimzahlen können. Er war ein vortrefflicher Schütze, dagegen bin ich doch der reine Schulbub, mußte schön stillhalten, bis ich den Hosenboden ordent lich voll hatte, und durfte mich auch dann nicht rühren. Im alten Sparta hätte ich überhaupt nicht nach Hause kommen dürfen, da hätte das Loch mindestens in der Brust oder im Bauch, aber nicht an so verschämter Stelle sitzen müssen. Man ist auch nicht imstande sich von dem Elend in den Feld- nnd Kriegslazaretten eine Vorstellung zu machen, zum Glück für die, die Zurückbleiben und vielleicht sich um jemand bangen. Einer hier aus der Baracke erzählt, wie sie in einem kleinen Zimmer zusammengepfercht gelegen haben, lauter Leute, die sich selbst nicht helfen konnten, eine ganze Nacht ohne Wärter, Darunter einer, der sich im Fieber wild umhergewälzt hat, den andern auf die zerschossenen Gliedmaßen, Vorüberrettende Kavalleristen haben ihnen dann Stöcke geschnitten. Die haben die Verwundete» schräg vorgehalten, wenn der Fiebernde sich herangewälzt hat, so daß er wieder Herunterrollen mutzte. — In einem Feldlazarett lag ein Major durch beide Augen geschossen. Der hat zwei Tage getobt, nach Gift verlangt, bis er erlöst wurde, — Und dann fast regel mäßig, wenn wir morgens aufwachten, lag da einer mit ver krampften Gliedmaßen und verglasten Augen, oft noch stundenlang. Da legt sich's wie Nebel auf alle warme Begeisterung, Hurra, Deutschland über alles, Russen, Franzosen, Serben müssen alle sterben, der Witwenball in Paris: mit solchen Stecken kommt man nicht weit. Da Hilst der geistigen Oberschicht nur ein starkes 1702 Pflichtgefühl, ein Durchdrungensein von der Notwendigkeit des »Hüterseins am Rhein«, Die Masse hält die eiserne Disziplin und der preußische Schliff zusammen, 8, 11, 1914, Heute kam Ihr Brief an. Vielen Dank , , , Im ganzen hat man Wohl die Franzosen überhaupt unterschätzt. Es ist doch fast ein ebenbürtiger Gegner, So minderwertig die farbigen Hilfs truppen sein mögen, sie sollen eben auch vom Fleck gejagt werden. In Rußland werden wir uns Wohl vorläufig auch auf den Schlitz unserer Grenzen beschränken müssen. In Ostpreußen steht das Korps, zu dem mein Bruder gehörte, sieben russischen Korps gegenüber. Um die zu täuschen, sind sie dann nachts immer hin und her marschiert, immer die Stiefel sesthaltend, damit sie nicht stecken blieben. Da oben werden überhaupt andere Dinge geleistet. In Frankreich lebt man dagegen wie, na wie eben der »liebe Gott in Frankreich«, — Die Buren und die Türken werden uns doch Wohl auch nur insofern entlasten, als der Nachschub englischer Hilfstruppen nach Frankreich aufhören wird ... In Zerbst liegen jetzt etwa 11900 Gefangene, meist Franzosen und Russen, diese wimmelnd von Ungeziefer, Davon hat man doch, im Gegen satz zu 70, auch in Frankreich bisher fast nichts gemerkt. Nun noch etwas Potpourri: Hunzingers Predigten machen mir den Eindruck, als ob sie immer vertiefter und gehaltreicher würden. In seinen Kriegsgeboten steht auch allerlei Gutes, Dabei fällt mir ein: In wie vielen Gottesdiensten für ausmar schierende Truppen mögen diese Worte ausgesprochen sein: »Wenn Gott der Herr im Donner der Geschütze zu euch reden wird , . ,« So oder ähnlich. Gedacht hat sich dabei Wohl keiner so recht was. Die Anschauung fehlte ja. Mir ist seinerzeit das Wort zum inne ren Erlebnis geworden. Im übrigen spreche ich nicht gern des langen und breiten über so was. Aber auch Schillers: »Ein furchtbar wütend Schrecknis« usw, hat mir Inhalt und Farbe bekommen. Ich brauche bloß an Löwen zu denken, Körners Gedichte, sonst wegen der mangelnden Anschauung ganz unver daulich, kann man wieder mit Genuß lesen. Und so noch vieles andere. Was macht denn der Verlag von Dehmels Kriegsliedern? Wer Ihnen das vor zwei Jahren gesagt hätte! Ich hätte was drum gegeben, wenn ich Ihr Zusammentreffen hätte mitansehen können. Das war doch eigentlich ein großer Moment im kleinen, — Dehmel hat, ich glaube in der Täglichen Rundschau habe ich's gelesen, ja mal einen lustigen Briefwechsel gehabt zwischen deut schem und französischem Schützengraben, Hermann Löns ist ja auch schon gefallen. Ich hatte mich noch auf viele Bücher von ihm gefreut, — Wenn wir erst mal am glücklichen Ende sind, es wird doch ein trauriges Umschauhalten sein, und die blinden Rotten sind da, wo die Besten standen. Offi ziere gibt es bei uns 93ern fast nicht mehr. Wir halten im Regi ment fünf Brüder von König, drei aktive, zwei Reserveoffiziere. Der eine, Hauptmnnn der Reserve, führte unfern Nachschub raus. Wenige Tage vorher zeigte er den Tod seiner vier Brüder und den seines Schwagers an. Nun liegt auch er schon wochenlang im Grabe, Unsere Kompagnie (8.) führt ein Einjähriger des Jahr gangs vor mir. Von den sieben Einjährigen des Bataillons sind in den Oktobertagen auch zwei gefallen. An die Heide habe ich gedacht, so oft ich am Straßenrand ein dürftiges Sträuchlein habe stehen sehen. Als ich von Aachen nach Hause fuhr, habe ich von Hannover nach Stendal rüber mir die Nase an den Scheiben plattgedrückt, aber die Nacht ließ bloß zuweilen etwas ahnen von der roten Pracht, Ich denke, wenn ich erst mal wieder laufen kann, vielleicht im Frühjahr, mal acht Tage dort zu sein. Die übersandten Pröbchen habe ich ins ach so jäh unterbrochene Kriegstagebuch geklebt. Vielen Dank! Ob ich was zu lesen haben möchte, fragen Sie? Augenblick lich bin ich eigentlich versorgt. Ich halte mir die Tägliche Rund schau, das Börsenblatt bekomme ich wöchentlich von Gast, Einen Wunsch hätte ich. Es ist ein Buch über Belgien erschienen, ich glaube von der deutschen Verwaltung in Belgien herausgegcben. Wenn Sie davon ausreichend in Kommission haben, wäre ich für Übersendung sehr dankbar. Ich habe schon in Löwen ver sucht, etwas derartiges zu fassen, leider da und auch später ver geblich, Ich schicke es Ihnen so bald als möglich unversehrt