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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 06.06.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-06-06
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000606025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900060602
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900060602
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-06
- Tag 1900-06-06
-
Monat
1900-06
-
Jahr
1900
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Reclamen unter dem Redactionsstrich (4g» spaltens 50/«Z, vor den Familiennachnchtea (6 gespalten) 40 ^. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne PostbefSkderung -4l 00.—, mit Postbesörderuug 70.—. Annahmeschluß für Anzeige«: Ab end-Ausgabe: vormittag« 10 Uhr: Morgeu-AuSgabe: Nachmittag» »Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je «st» halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an hie Expedition zu richte«. Druck und Verlag von S. Polz in Leipzig. SL Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 6. Juni. Die Canonifirung zweier neuer Heiligen hat die Presse de« deutschen UltramontaniSmus in Verlegenheit gesetzt. Sie sah von Anfang ein, daß sich mit den Thaten und Wundern der Beiden nicht viel Staat machen lasse, und verlegte sich deshalb auf die Schilderung de« äußeren Gepränge« bei dem Acte der Heiligsprechung. Aber auch damit sollte sie Unglück haben. Nachdem die „Germania" sehr enthusiastisch gethan und in cäsa- ristischem Stil von einer „Monstreparade deö römischen Generalissimus" gesprochen, mußte sie sehr fatale Dinge auS der Peterskirche und deren Umgebung berichten. Daß Deutsche beleidigt und mißhandelt worden, geht dem Blatt nicht sehr nahe, aber im Allgemeinen entwirft sein Correspondent, nachdem er sich der gebotenen höfischen Schmeicheleien erledigt, ein sehr wenig erbauliche« Bild von den Vorgängen. So. z. B. „vor 9 Uhr waren dke Wenigsten an Ort und Stelle in der Kirche. DaS macht einen Zeitraum von drei Stunden, welche durch ein unaufhörliches Gedränge, Stoßen, Gequetscht werden und Geschunden werden, durch Schimpfen, Schreien und Ohnmächtigwerden ausgefüllt wurden. Eine Controle ist da absolut ausgeschlossen. Zwar sollte man dem Militärcordon auf dem Petersplatz, Len päpstlichen Gendarmen und den Mitgliedern de« Circolo San Pietro di« Billct« vorzeigen. Was da« aber in der Praxis sagen wollte, wenn man in einem lärmenden, schreienden Haufen von vierzig bi« fünfzig Personen mit unheimlicher Schnellig keit durch die Thüren geschoben wird und dabei fast zwei Meter in einer Secunde macht, können nur diejenigen einsehen, welche dabei gewesen sind. Tausende gelangten mit ge- fälschten oder auch ganz ohne Billets in die Kirche. Die Gendarmen und Ordner wurden einfach fortgestoßen oder bei Seit« gedrängt, je nach dem Temperament deS be treffenden Landes, dem die Objecte dieser Ordnungsliebe ent stammten. Mehr als einer meiner lieben Landsleute stieß seinen Stoßseufzer nach unseren braven BerlinerSchutz- leuten auS. Wunderbar muß es erscheinen, daß nicht mehr Unglückssälle vorgekommen sind, denn in einem solchen Ge dränge und in einer solchen Stickluft, welche dasJnnere der Kirche namentlich gegen da« Ende der Ceremonie in eine fast undurchsichtige Staub- und Dunstwolke hüllte, kann während der sechs Stunden Vieles pajsiren. Man zählt nur einen Todten, welcher im Gedränge zu Boden siel und einen Herzschlag erlitt." „Nur" ein Todter ist gut; der Mensch wurde förmlich zerquetscht. Schließlich war der Berichterstatter doch „hin gerissen", welches Wckrt er im übertragenen Sinne ver standen wissen will, während man e« ihm nach seiner eigenen Erzählung nur buchstäblich glauben kann. Waren die Erscheinungen bei der Feier fatal, so be greift e« sich noch mehr, daß die Canonifirung an sich den deutschen Klerikalen zur Zeit nicht recht erwünscht war. Der neue männliche Heilige ist Jean Battiste de la Salle, der Gründer der Bruderschaft der französischen Schulbrüdcr, der krörs8 ignorantins, die bald nach ihren Auftauchen, weil sie das Unterrichtswesen herabdrückten, auch dem nicht jesuitischen Theile des KleruS Frankreichs Bedenken einflößten. Die neu geheiligte Frau ist die Italienerin Rita, bekannt ckurch ekstatische Zustände und Visionen, wie sie auch mancher Dame des zu Ende gehenden Jahrhunderts die wahrscheinlich sichere Anwart schaft auf die Heiligsprechung eröffnen, vorausgesetzt, daß vaS Geld für die Kosten des Canonisirungsprocesses auf gebracht wird; unter einer halben Million ist die Sache nicht zu macken. Leichter als die Geldbeschaffung ist anscheinend der Nachweis der Wunder, die jeder Heilige (wenn er eS werden soll) gewirkt baden muß. ES sollen deren zwei sein, aber wenigsten« von der neuen weiblichen Heiligen hat der aävooatus äiaboli noch mehr als dies Minimum gelten lassen. Der „Reichsbote", der freilich ein Ketzer ist, bemerkt darüber: „Läßt sich nichts Anderes auftreiben, so werden einige wunder bare Krankenheilungen ausfindig gemacht, denen die Kritik wenig oder nichts anhaben kann. Einen Kranken, der behauptet, den Hei ligen angerufen zu haben und durch seine Hilfe gesund geworden zu sein, kann man ja nicht widerlegen. Von der heiligen Rita hat nun aber die Congregation der Riten einige Wunder anerkannt, die uns zeigen, wie es um die kritischen Fähigkeiten dieser Prä laten und die von ihnen angestellte angeblich so genaue und pein liche Untersuchung bestellt ist. Der Nonne Rita soll eines Tages im Gebete ein Dorn auS Christi Dornenkrone in die Stirn geflogen sein. Vielleicht hat sie etwas derartiges in ihren Visionen geträumt, aber wir glauben kaum, daß unsere deutschen katholischen Landsleute da« als wirklich geschehen ansehen. Ebenso kindlich ist folgendes Wunder. Als sie im Jahre 1406 auf dem Sterbebette lag, verlangte sie nach blühenden Rosen und frischen Feigen, die ihr aber mitten im Winter Niemand verschaffen konnte. Da betete sie zu Gott, daß er das Wunder vollbringen und im Klostergarten eine duftende Rose erblühen und an dem kahlen Feigenbaum einige Feigen reisen lassen möge. Und siehe da, am nächsten Morgen sand sich der Wunsch der Sterbenden erfüllt." Da die deutschen Centrumsblätter diese wunderbaren Wunder unterschlagen, so bat der „RcichSbote" mit seiner Vcrmuthung über die deutsche Skepsis Wohl nicht so ganz Unrecht. Millionen würden übrigens auch daS glauben. Der amerikanische Generalconsul in Berlin, Herr Mason, hat sich in seinem Jahresbericht an das Staats departement in bemerkenSwerther Weise über die handels politischen Beziehungen und die deutsch-amerikanische Concurrenz ausgelassen. In deutschen Handelskreisen, so sagt Herr Mason, sei man zu der Ueberzeugung gekommen, der enormeAufschwung der amerikanischen Industrien sei eine directe Folge der hohen Schutzzölle, und man empfehle dieses Mittel auch der deutschen Regierung. DaS ist unrichtig; allerdings wünscht die deutsche Industrie in Einzelheiten einen besseren Ausgleich der Zollverhältnisse und einen gerechteren Schutz, eS fällt ihr aber nicht ein, die deutschen Zölle allgemein auf die Höhe der amerikanischen schrauben zu wollen, die durchschnittlich fünf bis zehn Mal so hoch sind wie die deutschen. Herr Mason erwähnt auch die deutschen Klagen über die Chikanen der amerikanischen Zollverwaltung, die Auskundschaftung der deutschen Industrie u. s. w., denen er selbst als amerikanischer Beamter einige Berechtigung zuzuerkennen scheint. Dann sagt er weiter: „Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß der neue deutsche Zolltarif und die in Vorbereitung befindlichen Handels verträge die Handelsbeziehungen zu anderen Ländern, besonders ober zu den Vereinigten Staaten, erheblich ändern werden. Es läßt sich nicht ableugnen, daß, während die Haltung der deutschen Regierung durchweg correct gewesen ist, in gewissen deutschen Geschäftskreisen ein Gefühl der Feindseligkeit gegen Amerika besteht, das vor dem Jahr« 1898 nicht zu bemerken war. Die hohe Handelsbilanz der Bereinigten Staaten gegen Deutschland, der Rückgang der deutschen Textil-Ausfuhr, die von der amerikanischen Zollverwaltung getroffenen schärferen Bestimmungen gegen zu niedrige Werthangaben, die kürzlich Frankreich gemachten Zugeständnisse und vor Allein die riesige Zunahme des amerikanischen Waaren-ExportS, die große Concurcenz, welche die Vereinigten Staaten deutschen Producten in Süd-Amerika und dem Orient bereiten — alle diese Dinge lasten schwer auf dem Herzen der Deutschen und man wird davon hören, wenn die Debatten im Reichstage über die neuen Handelsverträge beginnen. Rivalen und Concurrenten auf den ausländischen Märkten werden die amerikanische Union und das deutsche Reich stets bleiben, aber dies ist kein Grund, daß die zwei Nationen in ihren directen Be- Ziehungen zu einander nicht Harmoniken und gegenseitig rücksichts voll sein sollen, und die bezüglichen Bestrebungen können nicht besser gefördert werden als in einer zweckmäßigen Revision alter Verträge und der Anpassung der neu zu schließenden Uebereinkommen an moderne Erfordernisse und Verhältnisse.". Hoffentlich finden diese Mahnungen in der Union die gehörige Berücksichtigung. Die Aussicht auf das baldige Ende des südafrika nischen Krieges schiebt in London mehr und mehr das Thema der Pailamentsauflösung und Neuwahlcampagne in den Vordergrund politischer Erörterung. Allgemein sieht man den Parlamentsschluß für den Julimonat vorher, und so fest ist die Ueberzeugung, daß Neuwahlen nicht mehr lange auf sich warten lassen dürften, daß bereits eine ganze Anzahl von Parlaments mitgliedern, namentlich auch der liberalen Partei angehöriger, an ihre Wahlagenten in der Provinz Ordre gegeben haben, alles für das Wahlgeschäft Erforderliche vorzukehren. Die Liberalen haben allen Grund, besonders zeitig auf dem Posten zu sein, da in der Thal für ihre conservativen und unionistischen Gegner die Versuchung, den ungeheuren Popularitätseffect der imperia listischen Eroberungspolitik zu einem vernichtenden Schlage wider den Liberalismus sowohl der radikalen als der gemäßigten Schattirungen auszunutzen, eine übermächtige ist. Wie mehrere in letzter Zeit vorgekommene Stichwahlen darthun, gewinnt die imperialistische Strömung in den Massen sowohl der Breite als der Tiefe nach an Terrain, und auch die Socialdemokratie muß vor diesem beherrschenden Zuge des Augenblicks ihre vergifteten Waffen strecken. Das englische Volk lebt seit der Entsetzung Mafekings in einem Freudentaumel, der seines Gleichen in der Geschichte des Jnselreiches nicht besitzt. Jetzt sieht man erst recht deutlich, wie bleischwer die anfänglichen Niederlagen der in Südafrika kämpfenden Armeen auf Kopf und Herz des Volkes gelastet hatten, und zugleich, welch hervorragendes Maß von Selbstbeherrschung dem englischen Naturell innewohnt, wenn es gilt, angesichts der supponirten Schadenfreude oder Feindselig keit des Auslandes eine heroische Haltung zu behaupten, von der man im Innersten weit entfernt ist. Nun, wo die Waage des Kriegsglücks sich endgiltig zu Gunsten der englischen Waffen gesenkt hat, ist des Jubilirens und Frohlockens kein Ende; die Zurückhaltung der anderen Mächte deutet man sich jenseits des Canals als eine Billigung der imperialistischen Politik und eine der Allmacht des BritenthumS bezeigte Huldigung. Das „Greater Britain" fühlt sich vom Stolze emporgetragen, es sieht von der imperialistischen Politik nur die Glanzseite, und wenn der Wahlfeldzug in diesem Zeichen durchgeführt wird, so steht ein Sieg der Sache Chamberlain's in Aussicht, der den Liberalismus einfach zu Paaren treibt. Allerdings nur, wenn das Eisen geschmiedet wird, so lange es warm ist. Eine Ver schiebung der Neuwahlen bis ins nächste Frühjahr könnte viel leicht unter vollständig geänderten Zeitumständen vor sich gehen, da Niemand vorherzusagen weiß, was für Ueberraschungen und eventuell „unton-arcl events" im Schooße der Zukunft verborgen ruhen mögen. Die baldige Parlamentsauflösung gilt daher der öffentlichen Meinung Englands als ausgemachte Sache, ja man knüpft an den voraussichtlichen überwältigenden Sieg der con- servativ-unionistischen Phalanx schon Muthmaßungen über eine anderweite Cabinetszusammensetzung, die den Einfluß Cham berlain's zum alleinherrschenden machen würde. Aus Mexiko wird der „Welt-Corr." vom 15. Mai ge schrieben: Die in Washington tagende ständige Commission der amerikanischen Republiken hält den Zeitpunkt für ge kommen, uni den zweiten -an amerikanischen Congretz ein zuberufen, und zwar in die Hauptstadt einer der continen- talen Republiken, mit Ausschluß Washingtons, wo zu Leb zeiten Blaine's der erste Congreß dieser Art tagte. Bei dieser Veranlassung hat der amerikanische Minister deS Aus wärtigen in Washington dein mexikanischen Botschafter den Wunsch ausgedrückt, daß Mexico City zum Versammlungs platz ausersehen werden möge, womit sich die hiesige Regie rung unter dem Vorbehalt einverstanden erklärte, daß alle continentalen Regierungen damit einverstanden seien; in diesem Sinne und Voraussetzung sind die Einladungen ergangen. Die Sache selbst hat Bedeutung für die amerikanische con- tinentale Politik, somit auch für Europa, und namentlich für die auf diesem Contincnt interessirten europäischen Mächte. Die Anregung kommt auS Washington, und wird jedenfalls von der dortigen Regierung beeinflußt, wenn nicht veranlaßt worden sein; in den wenigen Jahren, die seit dem ersten pan amerikanischen Congreß verflossen sind, hat sich die politische Constellation aus diesem Coutinent veränvert; vielfach, na mentlich bei den kleinen centralamerikanischen Republiken hat sich das frühere Vertrauen und der gläubige Aufblick zu den selbstlos die Monroe-Doctrin vertheidigenden Vereinigten Staaten in lebhaftes Mißtrauen gegen den plötzlich imperialistisch annectirenden College« verwandelt, und daS vor Kurzem in der gelben Presse des Nordens mit liebevollerZuneigungbreitgetretenemüßigeGeschwätz und Thema einer Umwandlung Nicaraguas in einen Staat der Union, aus Anlaß der Canalbau-Frage und um so auf einen Schlag alle territorialen Schwierigkeiten mitsammt englischen Wünschen gründlich aus der Welt zu schaffen, bat selbst verständlich nicht verfehlt, die Stimmung gegen den Norden des Weiteren zu verschlechtern. Dieses Gefühl der Animosität und Sorge ist außerhalb des englisch sprechenden Theiles des Continents überall im Wachsen begriffen und in Washington wohl bekannt. Mexiko, das für den empfindlichsten Punct aller spanischen Republiken, namentlich der kleinen und kleinsten, die nationale Unabhängigkeit, am eigenen Leibe geblutet und die größten Opfer gebracht hat, ist als nächster Nachbar der Vereinigten Staaten möglicherweise auch der Erste, der für den in seiner zukünftigen Entwickelung unberechenbaren Imperialismus und die Annexion in Frage kommen könnte, obgleich es bisher verstanden hat, sich mit Umsicht und gutem Erfolge jede Foirilleton. Äus dem Leben einer Russin. 2j Bon Eh. v. Fabrice. Nachdruck verboten. Wieder lebten sie auf dem Lande, als Anna Feodorowna eines Tages einen Brief aus Paris erhielt, in dessen Aufschrift sie auf den ersten Blick die ihr nur zu wohlbekannte Handschrift des einstigen Jugendgeliebten erkannte. Bleich und verstört starrte sie auf das unwillkommene Erinnerungszeichen an eine für sie längst begrabene Vergangenheit. Es währte lange, bis sie sich so weit beruhigt hatte, um das Schreiben öffnen zu können. Zitternd vor Zorn und Entsetzen las sie die folgenden Zeilen: „Einziggeliebte! Erst jetzt erfahre ich zufällig, daß Du Dich mit einem reichen und hochgestellten Regierungsbeamten verheirathet hast und sende Dir meine herzlichsten Glück wünsche zu dieser glänzenden Verbindung. Längst hast Du vielleicht den armenFlüchtling vergessen, doch in meinem treueren Herzen lebt die schöne Vergangenheit weiter, und täglich ge denke ich noch aller der wonnigen, geheimen Freuden unserer Liebe!" — Wüthend zerriß Anna das unverschämte, beleidigende Billet, und wollte die Papierstücke gerade in daS Feuer werfen, als Herr von Kranskoy in den Salon eintrat. .Erstaunt schaute er auf ihr Beginnen und in ihre bleichen, zornig erregten Gesichtszüge. Bestürzt fragte er sie nach dem Inhalt des eben ringetroffenen Briefe». Zum ersten Male sah sich Anna Feodorowna ge zwungen, den Gatten durch falsche Vorspiegelungen zu täuschen. „Nur eine Kleinigkeit . . ., ein Aergrr mit der Modistin, über hte ich mich aufgeregt hab», w«il die Sache mir so völlig überraschend kam", — stammelt« sie verwirrt. Sie versuchte darauf, ihm eine Ruhe vorzuh«uch«ln, von der ihr Herz nichts wußte, und darüber zu scherzen, daß eine an sich so geringfügige Angelegenheit sie derartig habe erzürnen können. Doch sie selbst erschrak vor dem Ton ihrer Stimme, di« gepreßt und unnatürlich klang, und fühlte sie wohl, daß ihr Gemahl ihr nicht glauben könnte. Mit finsterer Miene hatte Herr von KranSkoy schweigend die wenig überzeugend vorgebrachten Worte seiner Frau angehört. Er gab sich sichtlich Mühe, ruhig zu bleiben und sie nicht durch neuer Mißtrauen zu kränken. So schwieg er denn, zuckte die Schultern und wendete sich ab, um eine auf dem Lisch« liegende Tageszeitung zu ergreifen, deren Inhalt anscheinend sofort seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Deutlich jedoch konnte Anna bemerken, daß er ihren ungeschickten Erklärungen keinen Glauben schenkte, und dies trug nur dazu bei, die Verwirrung, in der sie sich befand, zu steigern. Wohl hätte sie gewünscht, ihrem Manne sofort die ganze Vergangenheit zu gestehen und ihn zu bitten, sie vor der Gefahr, die vor ihr so plötzlich auftauchte, zu beschirmen. Dann jedoch erinnerte sie sich wieder an all' die Verdrießlichkeiten, die fast von den ersten Tagen ihrer Ehe an ihr durch seine so leicht er regbare Eifersucht bereits entstanden waren. Sollte sie selbst dieselbe nun von Neuem entfachen, ihr durch solche Geständnisse auch nur einen Schein von Berechtigung geben? Unmöglich! In den folgenden Tagen gab sich Anna Feodorowna viele Mühe, sich völlig heiter und unbefangen zu zeigen. Ihr Gemahl schien sich vorgenommen zu haben, den peinlichen Vorfall mit keiner Silbe wieder zu erwähnen. Aus vielen Anzeichen mußte Anna aber mit Schrecken erkennen, daß er noch immer über ihr Geheimniß grübelte, und daß sein wieder erwachtes Mißtrauen nicht mehr, wie früher, verschwand, sondern ihn bald völlig und dauernd beherrschte. Die tausend Kleinigkeiten de» täglichen Lebens genügten, seinen Argwohn gegen ihre Aufrichtigkeit stet neu zu entfachen, und alle ihre Versuche, die seit dem Eintreffen jene» Briefes aus Paris zwischen ihnen entstandene kühle Ent fremdung zu beseitigen, blieben vergeblich. Allmählich breitete sich ein düsterer Schatten über ihr ganze» häusliches Leben, und das Unausgesprochene zwischen ihnen zerstörte immer voll ständiger daS stillfriedliche Glück, das beide Gatten früher ge nossen hatten. Beide litten schwer unter diesen Verhältnissen, ohne sie ändern zu können oder zu wollen, so lange e- noch Zeit gewesen wäre. Lebhaft empfand Herr von Kranskoy die» selbst und glaubt« deshalb seiner Frau eine große Freud« zu bereiten, al» er ihr «ine» Tage» mittheilen konnte, daß die Regierung ihm eine amt liche Mission übertragen habe, die sie für zwei ganze Jahre nach Paris führen würde. Gewiß hätte sich Anna zu jeder anderen Zeit über ein« solche Reise gefreut. Durfte sie doch hoffen, daß die Veränderung der Umgebung nicht ohne günstigen Einfluß aus die Gemüthsstimmung ihres Manne» sein würde. Jetzt aber erfüllte sie diese Aussicht mit Furcht und Grauen. Befand sich doch in Pari» der Mann, der schon so viel Unheil über sie gebracht hatte, und ein trübes Vorgefühl bemächtigte sich ihrer, al» ob neue schwere Leiden ihrer harrten. Wie aber hätte sie r« wagen dürfen, den leisesten Widerwillen gegen einen längeren AufentAlt in dem schönen, glänzenden Pari« zu zeigen, ohne damit ihren Gatten sofort den Gedanken nahezulegen, daß andere Beweggründe sie zu dem Wunsche bestimmten, sich nicht von Petersburg zu ent fernen? Wußte sie ja, wie genau er sie auch jetzt wieder beobach tete. In seiner leidenschaftlichen Erregung hätte ein einziges unbedachtes Wort von ihr genügt, die für sie beleidigendsten Ver- muthungen in ihm entstehen zu lassen. So mußte sie die sie niederdrückende, schier zur Verzweiflung treibende Angst vor Aller Augen verbergen, sich den Anschein geben, als freue sie sich auf den Aufenthalt in der Seinrstadt und über den ihrem Gemahl gewordenen ehrenvollen Regierungsauftrag. In jenen Jahren stand das napoleonische zweite Kaiserthum in Frankreich auf der Höhe seiner Machtentwickelung. Der kaiserliche Hof bemühte sich, alle die alten, legitimen Fürsten höfe in der Entfaltung der verschwenderischsten Pracht und des raffinirtesten Luxus zu übertreffen, und Paris zum Mittel punkte der eleganten Welt zu machen. Dir Regierung wie die Pariser Geschäftsleute strebten eifrig und mit allen Mitteln danach, den Zuzug von reichen Ausländern zu steigern und sie durch Darbietungen immer neuer Anziehungen dauernd in der französischen Hauptstadt zurückzuhalten. So war Paris bald nach dem Staatsstreich abermals zum Treffpunkt« der elegan testen und reichsten Lebewelt, aber auch der verwegensten Aben teurer und Jndustrieritter aller Länder geworden. Nirgend» in der Welt wurde der begüterte Fremde mit so großer Zuvor kommenheit ausgenommen, al» in dem kaiserlichen Pari». Alle Ausländer fühlten sich deshalb schnell heimisch in der glänzenden, heiteren Weltstadt an der Seine und ließen sich gern für längere Zeit hier nieder. Al» Herr von KranSkoh, der von der kaiserlich russischen Bot schaft sofort in die amtliche Welt ringeführt worden war, sich kaum in der von ihm gemietheten prachtvollen Wohnung am Boulevard MaleSherbe» eingerichtet hatte, sahen er und seine Gemahlin sich alsbald mit zahlreichen Einladungen zu Festen aller Art überhäuft. So wurden sie veranlaßt, ebenfalls ihre Salon» zu öffnen, in denen, wie früher in Petersburg, sich bald die Mitglieder der ersten Gesellschaftskreise einführen ließen. Sine» Abends war Dimitri Iwanowitsch mit seiner Ge mahlin einer Einladung zu dem von einem levantinischen Bankier gegebenen glänzenden Ballfest« gefolgt. Der LebrnSlauf, wie di« geschäftlichen Anfänge diese» Manne» erschienen in ein einigermaßen geheimnißvollr» Dunkel gehüllt. Da da» unge heure Vermögen des Großbankier» ihm gestattete, Feste zu geben, von deren magischer, orientalischer Pracht „tont kari,", — d. h. die elegante Lebewelt der Boulevards, — schwärmte, so erlaubte sich Niemand hier unnöthige Gedanken über den Erwerb dieser in so liberaler Weise dem Vergnügen und der Gastlichkeit ge widmeten Millionen. Demgemäß war auch an jenem Abend die Gesellschaft, die sich in diesem Hause zusammengefunden hatte, eine ebenso zahlreiche, als elegante. Welche Gefühle aber be wegten Anna Feodorowna, als sie bemerkte, daß kein Anderer als Paul von Kraszinski es war, welcher die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im höchsten Grade erregte! Er kehrte soeben von einem Duelle zurück, das er „jenseits der Grenze in Belgien" ausgefochten hatte. „An der belgischen Grenze", so lautet ja die gewöhnlich angewendete Formel, um womöglich einer gericht lichen Verfolgung wegen Zweikampfes in Paris zu entgehen, während sich in den meisten Fällen di« Duellanten doch nur bis zu irgend einem Gehölze in der Umgebung der Stadt begeben. So war es auch in diesem Zweikampfe gehalten worden, in dem Kraszinski seinen Gegner, einen Familienvater, den er unter einem frivolen Vorwande herausgefordert hatte, durch einen meisterhaft geführten Degenstoß tödtlich verwundet hatte. Diese neueste „Heldenthat", die alle anständigen Leute eigentlich hätte bestimmen sollen, sich von einer solchen Persönlichkeit fern zu halten, genügte, um ihn hier zum Helden des Abends und zum Mittelpunkt eines Kreises von zahlreichen Bewunderern zu machen! Wenn sich seit ihrer Ankunft in Pari- ihre ängstlichen Ge danken auch unausgesetzt mit der Möglichkeit «ine» solchen Zu samentreffens beschäftigten, so hatte Anna Feodorowna doch im Stillen stet- gehofft, daß ihr ehemaliger, von ihrem Vater so schimpflich verabschiedeter Geliebter r» nicht wagen würde, sich ihr wiederum zu nahen. So glaubte sie sich auch jetzt fast da» Opfer eines bösen Traume», und mehr todt als lebendig starrte sie auf die sich Nähernden, al» sie plötzlich Paul von KraSzinSki in Begleitung de» Hausherrn auf sich zukommcn sah. Wie au» weiterFerne nur klang die Stimme de» Bankier» an ihrOhr, al» er ihre Erlaubniß erbat, ihr den Polen vorstellen zudürfen. KraSzintzki sah elegant und distinguirt wie immer au». Er verneigte sich tief vor ihr und blickte sie dann ruhig und unbefangen mit seinen dunklen Augen an, die nichts von ihrem ehemaligen magnetischen Glanz verloren zu haben schienen, während auf seinen bleichen Äestchttzügen sich die Spuren eine» ausschweifenden Genuß leben» und wohl auch die der Sorgen und Kämpfe, wie sie auch ihm dir Verbannung kaum erspart haben mochte, nicht verkennen ließen. ..^ Nur mit Aufbietung aller Willenskraft gelang eS Frau von Kran»koy, ihre Besonnenheit und äußerliche Fassung soweit zu
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