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Nr. LOS. Freit«,, de« 3V. Dezember 1004. S. Jahr,««,. SWsche Uolkszeitimg ! llaabbäsgiger cagedlan für llladrdelt, strebt«. freideit. Nchetn« täglich «ach«, mit «uSnabme der Sonn-und Festtage. I> __ ^ ^ Uaabda«-iger kagedlan für Wadrdett. strebt«. kreiden. Inserat» werden die kgelpaltene PeiitzeUe oder deren Ranm 15 Pf. berccknel. bei Wiederholung bedeatender Rabatt Vuch»ru»eret, Rrdaktton und virschaftdfteU» - Vre4»e», Pillniyer Etratze 45. — Fernsprecher Rim I Rr IS« Anfang oder Ende der Reform in Rußland? Mit einem gewissen Staunen verfolgte Westeuropa die B»rkommnisse im Innern des europäischen Rußlands-, man wußte sich nicht recht die jüngsten Ereignisse zu deuten. A<rr es der unglückliche Krieg oder das schreckliche Ende des allgewaltigen Ministers Plehwe oder eine tiefe Gährung im russischen Volke, die auf einmal eine nicht gekannte Freiheit zuließ? Die Hoffnungen der einen gingen so weit, daß sie bereits eine Verfassung und ein Parlament nach tvesteuropäischem Muster in St. Petersburg erblickten, an dere zweifelten hieran. Nun hat das neueste Manifest des Zaren beiden Unrecht gegeben und sich für einen Mittelweg entschieden, der jedoch immerhin als ein erheblicher Fort schritt anzusehen ist. Selbst der glühendste Verteidiger des parlamentarischen Systems wird dem Zaren nicht gram sein können, daß er seinen: Volke kein Parlament gegeben hat, denn ein solches setzt immer ein Volk auf einer gewissen jttilturstnse voraus. Kindern gibt man keinen geladenen Revolver als Spielzeug, und für das russische Volk wäre ein Parlament ein solcher geladener Revolver gewesen. Die Masse des russischen Volkes steht auf einer solch niedrigen Kulturstufe, daß sie gar nicht fähig ist, sich bei den Wahlen zu einer Volksvertretung zu entscheiden. Korruption und die schlimmste Agitation hätten hierdurch nur neue Tri- umpl>e feiern können. Dagegen ist es ein großer Vorzug des neuen Mani festes, daß es den Willen der Krone in ganz genau for mulierten Wünschen festlegt und das Ministerkomitee mit der beschleunigten Ausführung derselben betraut. Nicht nur in allgemeiner Nedeivendung wird dem Volke eine Besserung versprochen, sondern in bestimmten Punkten. Die Tatsache, daß das Miuisterkomitee die ausführende Be hörde ist, läßt neue Hoffnung aufkommen-, dadurch bekommt Herr Witte, dessen Stern wieder im Aufsteigen begriffen ist, die Sache in die Hand; Witte aber ist ein Mann der Tat. Es tvird allerdings starke Nerven gebrauchen, um einen Fortschritt im Sinne des Manifestes zu erzielen, denn der offene und versteckte Gegner ist die Beamtenschaft, gegen daren Willkür sich der Erlaß nicht in letzter Linie richtet. Gehen wir auf den Inhalt desselben näher ein, so wird zuerst dem B a u e r n st a n d Hilfe zugcsagt-, wer das Land nicht kennt, ist hiervon überrascht. Man sieht doch, wie Rußland ungeheure Mengen Getreide ausführt und so namentlich auch eine Ursache der Notlage der deutschen Landwirtsclxlft ist; tver nicht näher mit den Verhältnissen vertraut ist, schließt deshalb auf eiue verhältnismäßig gün stige Lage des russischen Bauernstandes. Aber es ist ein ganz gewaltiger Trugschluß. Ter russische Bauer ist noch viel schlimmer daran als der deutsche, nur einigen Groß- maguateu geht es gut. Die größten Entbehrungen im Innern, die sich oftmals zur direkten Hungersnot auswach- sen, sind es, die eine so umfangreiche Getreideausfuhr An lassen und die zu niedrige Entlohnung der russischen Bauern und Landarbeiter führt zur Herabdrückung der Ge treidepreise. Je mehr deshalb die Lage des russisckxm Bauern gehoben wird, desto besser steht es auch mit der deut schen Landwirtschaft, dann hört die elende Schmutzkon kurrenz auf. Was also in dieser Beziehung in Rußland ge schieht. wird gerade bei uns in Deutschland mit Genugtuung verfolgt werden, auch abgesehen von dem rein menschlichen Mitgefühl, das dem russischen Bauernstand ein erträgliches Dasein wünscht. Sodann hält der Zar an dem Grundgedanken des „autokratischen Reiches" fest, doch soll der Willkür einzelner Behörden Einhalt getan und Rußland aus den: heutigen Polizeistaat in einen Rechtsstaat übergeführt werden. Tie Erweiterung der kommunalen Selbstvenvaltung soll sowohl durch Heranziehung der Semftwos wie durch Schaffung neuer Organisationen herbeigeführt werden. Gleichheit vor Gesetz und Recht und Selbständigkeit der Richter sind ein Wunsch des Zaren, der wahrlich nicht in letzter Linie aus der heutigen Beamtenwillkür entsprungen ist. Mit Genug tuung wird man in Deutschland vernehmen, daß für die Arbeiter- „in den Fabriken und Werkstätten (damit ist in Rußland das Handwerk gemeint) und in anderen Erwerbs zweigen" eine staatliche Versicherung eingeführt werden soll. Die Ausnahmebestimmungen, womit jede Opposition unter drückt werden könnte, sollen revidiert tverden, dabei sind daun den Behörden ihre seitherigen Befugnisse einzueugeu. Selbst eine Art Tolerauzantrag enthält das Manifest-, es sollen alle jene Bestimmungen für Sektierer, die Polen und Juden, beseitigt werden, die nicht durch das Gesetz selbst geboten sind. Daun wird den Ausländern eiue Erweite rung ihrer Rechte angekündigt und am Schlüsse fällt auch für die Presse etwas ab; znxir nicht die gewünschte Preß freiheit, aber doch sollen „überflüssige Einschränkungen" be seitigt werden gemäß der fortgeschrittenen Bildung der Presse und der ihr zukommenden Bedeutung. Soweit der Inhalt des Manifestes. Man sieht, daß dieses in allen Teilen dem Fortschritt huldigt und das russische Volk zu heben sucht, aber mau wird auch sagen müssen, daß nun gar alles auf die Ausführung dieses Pro gramms ankommt: diese soll sehr beschleunigt werden. Tie revolutionäre und sozialdemokratische Presse ist sehr ent täuscht ob dieses Schrittes, weil sic wohl weiß, daß sie ihre Tätigkeit einstweilen noch nicht nach Rußland verlegen kann. Aber gerade dieser Zorn und Aerger ist ein Beweis, daß der Erlaß für die heutigen russischen Zustände das richtige trifft. Jahresrnndscha« l. Am Jahreswechsel muß auch die Presse ein tvenig stille stellen und einmal rückwärts schauen auf die verflossenen 365, Tage, die in das Meer der Ewigkeit hiuabgesunken sind. Wo stehen wir? Wo gehen wir hin? Diese Fragen müssen sich gerade jetzt doppelt aufwerfen! Tic Ereignisse im deutschen Vaterlande müssen m erster Linie das Interesse wecken. Vor Jahresfrist wurde im deutschen Volke noch die bange Frage erhoben: Wie steht es mit der Gesundheit unseres Kaisers? An seinem Geburtstage teilte er es mit, wie auch ihn der Zweifel manche bange Stunde bereitet l>abe, doch sei keine Gefahr mehr vorhanden-, die Mittelmeerreise im Monat Mär, diente der völligen Genesung und groß und begeistert »vor der Jubel, als der geliebte Kaiser in Karlsruhe zuerst wie der den deutschen Boden betrat. Tie Krankheit war besiegt. Neckst lebhaften Anteil nahm auch das deutsche Volk an der Verlobung des Kronprinzen mit der Herzogin Cäcilie von Mecklenburg: ein wahrer Herzenbund vereinigt beide, wann in diesem neuen Jahre die Vermählung stattfinden wird, ist noch unbestimmt. War so das abgclaufene Iabr für das deutsckie Kaiser haus ein Jahr der Freude, die nur durch das Hinscheiden des jüngsten Sohnes des Prinzen Heinrich getrübt wurde, so hat in vielen Fürstenhäusern der Tod seine Einkehr ge halten. Nicht weniger als vier Bundesfür st e n sind in die Ewigkeit abberuseu worden. An erster Stelle nennen wir unseren Landesvater K ö - nig Georg von Sachsen, der am 1->. Oktober im Alter von 72 Jahren sauft im Herrn entschlafen ist. Er hatte nur wenige freudige Tage als Monarch er lebt: die Königskrone wurde ihm zum Sckmierzensdiadeni, das er als frommer Katholik geduldig trug. Nach seinem Tode haben auch manche Kreise im Sachsenlaude eiugeseheu, wie bitter die Tage der Negierungszeit dieses edlen Königs waren, bitter gemacht namentlich durch das von protestanti schen Fanatikern so eifrig gesäte Mißtrauen. Und das einem edlen und gerechten Monarchen gegenüber, dessen oberstes Prinzip in 'einer leider nur kurzen Regierung das Glück aller Stände tvar und dessen rastlose Arbeit der Ver wirklichung dieser Aufgabe galt! Seine Regierung umr ausgezeichnet durch Gerechtigkeit gegen alle, und mau wird mit der schärfsten Lupe keine Handlung entdecken können, welche den Katholiken irgend eine wenn auch »och so kleine Vergünstigung eingeräumt hätte. An zweiter Stelle sei unter den verstorbenen Bundes- sürsteu der Großherzog von M e ck l e n b u r g - S t r e I i y genannt. Er war ein gar milder und verständiger Herr: seit mehr als einem Menschenalter erblindet, kam sein inne rer Wert desto mehr zur Geltung: er nxir auch den Katho liken ein treubesorgter Landesvater. Denselben ehrenden Nachruf muß man dem Herzog von Anhalt widmen. Ter Grafregent von Lippe-Detmold, Graf E r u st zu r L i p p e - B i e st e r f e l d . hat die Augen geschlossen nnd seinem Sohn die Erbschast hinterlassen, gegen welche die Linie Lippe-Schaumburg protestierte. Es kam das bekannte Kaisertclegramm, der Reichskanzler konnte in glücklicher Weise vermitkelu und nun liegt der gesamte Tbrousolgö- streit beim Reichsgericht. Zwei deutsche Fürstenhäuser haben mehr Freude erlebt. Ter jugendlickx' Großherzog Jahresbilanzen. Novellistische Skizze. Von Friedrich Sirck. cNaclidr. ver!-.) Die Königin des Weihnachtsfestes war wieder Julia, die Tochter des Großkaufmanns Berger, den man für den größten Geldaristokraten der Stadt und Gegend hielt. Alles, was Luxus und Eleganz der Mode aus dem Menschen zu machen vermögen, das trug Julia Berger zur Schau, und sie verstand cs, sie zur Schau zu tragen. Wie in ihrer Robe und ihrem Schmuck, so strahlte sie auch in der Sicherheit des Bewußtseins, die Königin des Festes zu sein. Verehrer und Anbeter umschwärmten sie natürlich. TaS festigte noch mehr ihr vermeintliches Recht auf die Königin schaft des Abends und richtete höher auf das Haupt ihrer Mutter, die mit dem Heer von Anbetern, ihren Stolz, die einzige Tochter, selbst anbetete. Von allen ihren Verehrern bevorzugte Julia auffällig den Baron Hubert von Hubertusstein, den sie an der Riviera kennen gelernt und zu ihrem Ritter erkoren hatte. Der Verkehr des Barons mit der schönen Julia schien schon so intim zu sein, daß in näher stehenden Kreisen die Erhebung der Kaufmannstochter zur Baronin als bevorstehend be trachtet wurde. Die älteren Herren schüttelten den Kopf bedenklich dabei. Der Baron sieht sich genötigt zur Aufbesserung seiner Verhältnisse — das verblichene Schild bedarf der Ver goldung — die Hubertussteiner fallen sehr bedenklich am nervim rernm erkrankt sein. — So hieß es allgemein. „Suche Herrn Papa schon 'n ganzen Abend vergeblich, gnädiges Fräulein." „Um die Neujahrzeit herum, Herr Baron, sind große Häuser nicht für die Gesellschaft zu haben, da ist das Bureau allein ihre Welt." „AHI Versteh', versteh', gnädiges Fräulein. Bilanzen — über, natürlich über Gratuliere ganz gehorsamst! Gnädige Frau entbehren doch wohl Herrn Gemahl sehr." — „Mein Gemahl ist nun einmal Plutokrat, Herr Baron. Wüßte er Hern: Baron nicht hier, würden wir auch nicht hier sein." „Schmeichelhaft, sehr scbmeichÄhaft, gnädige Frau. Außerordentlich dankbar!" propo«, Herr Baron," fiel Julia plötzlich mit einem verächtlichen Seitenblick ein, „haben Sie schon die Born be merkt? Tas kleine Gäusck>eu scheint <-u «mi-riere zu sein. Macht wahrhaftig Jagd auf den neuen Doktor. Zu naiv!" „Die Born — Mauerblümchen das!" Er schaute sich ebenso verächtlich um nach der kleinen blonden T-ame in duftiger einfacher weißer Robe mit dem Eugelsgesicht, die so unschuldig darein schaute, als fühlte sie sich hier unter- lauter Engeln. „Gnädiges Fräulein sollten sich nicht an- strengcn. Aufmerksamkeit nickst verdient." „Doch zu interessant! Sehen Sie nur, Herr Baron, wie der Doktor, der berühmte neue Arzt, um den Stadt und Land sich reißen, das Gänschen auszeichuet!" Wie häßlich machte der verächtlich höhnische Zug die stolze Ballköuigiu. „Geistesaristokratie, gnädiges Fräulein. Jüngste Aus geburt des Jahrhunderts. Ist ja die Tochter des Verse- machers! Dickster heißen jawohl solche Leute im Volke. Versemackier auch selbst hier mit Geheimrat Wende. Vater des neuen Doktor. Haben keine Gebmst, tonnen Welt nichts nützen, solche Leute. Langweilig!" Auch Doktor Wende und Gretchen Born unterhielten sich. Grctchens lieblichem, unschuldsschönem Gesicht strahlte so hell das Glück ihres Herzens wieder, daß es sie in der Einfachheit ihres Wesens und Gewandes wie Heiligenschein umgab. „Der Doktor! — Das Gänschen! Wer begreift es!" zischte Julia Berger wie eine Natter, als sie die beiden so glücklich sah. „Veilchen — im Verborgenen blüht. — Habe mal von Hundsveilchen gehört. Schrecklich gemeine Blume Hundsveilchen. Liebe Königin, strahlend — Rose!" Wie dumm klang das Schnarren! Julia kämpft mit einer Ohnmacht. „Eilen, gnädige Frau! Gnädiges Fräulein muß Riviera! — Luft hier verpestet!" Und die gnädige Frau war derselben Meinung. „Cie haben nur zu recht, Herr Baron, wir können uns nur wohl an der Riviera fühlen." * * Das Glück im Winkel. In einer versteckten Salon nische, wo durch dunkles Tanncngezweig. das das Weih- > nackstsfest charakterisierte, dämmerungsmildc das Lickst des ! großen Prunkraumes fiel, saßen Geheimer Medizinalrat > Wende und der Dichter Born, glücklich plaudernd über ihre Studienjahre und ihre Jugendfreundschaft. Sie hatten sich ! eiue lauge Zeit aus deu Augen verloren, weil sich Born nach dem Tode seiner Frau ganz in die Einsamkeit zurück gezogen mit seiner Tochter, wo ihre Muse nur ihre einzige Gesellschafterin war. Doktor Wende hatte sie erst wieder in ihrem traulichen Versteck entdeckt. „Nun die Kinder uns wieder au die Sonne gezogen haben, Born, wittre auch ich eben wie du, alter Einsiedler, wieder Morgenluft. Schau nur einmal unsere Kleinen da au, fängt dabei nickst unser altes Herz selbst in der Bru't wieder mit zu Hüpfen au, wie dermaleinst, als auch wir beiden noch die Welt im Sturm erobern wollten? Ter Zeit ein volles Glas!" Tie Ehampagnergläser klangen anein ander bell — wie die Freude klingt. „Wende, Wende, du alter Freund verstehst wirklich die Kunst der Verjüngung. Aber wozu wärst du auch sonst Ge heimer! Wahrhaftig, schau ich die Jugend so um mich, schwelgend in Frühlingswonne ihres Lebens, dann ist es wirklich, als wenn auch ein Lenzhauch meine Seele streift, lind dieser Johannistrieb neuen Lebens, du hast ihn getrx-ckt, Wende! So laßt uns das zweite Glas nun unserer- zweiten Jugend weihen!" „Schmollis dem Sänger!" rief der Gebeimrat, „dem erstandenen!" Und das Pokuliercn sland den beiden Alten noch meisterhaft. Unbemerkt näherten sich Dr. Wende und Gretchen dem traulichen Winkel. Sie blieben am Eingang stehen, ehr furchtsvoll. Ihr Kinderhcrz streifte ein Hauch der Jugend erinnerung und des Jugcndglückes ihrer Väter so tvarm, so beseligend! „Wenn sich Herzen wiederfinden, dann ist's wobl so," meinte Gretchen, „so selig auf Erden." Und ihr Engelsangesicht verschönerte und vertiefte ihre Worte in dem seligen Ausdruck. „Und wenn üch Herzen linden." -- Der Doktor schien cs zu empfinden. * * » Frau Berger und Fräulein Tochter schwelgten nur in dem Gedanken an die Riviera und rüsteten sich zur Reise. Baron Herbert von Hubertusstein auch - aber - lieber dem Hauptbuch saß der Großkaufmanu Berger. Neujahr die Geschästsbilanz war gezogen worden. — Aschgrau und eingefallen waren die Wangen des Groß-