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Brodski am 4. Dezember 1879 in Wien unter der Leitung Hans Richters. Unfaßbar will es uns heute erscheinen, daß das Werk vom Publikum ausgezischt wurde! Die Presse war geteilter Meinung. Der gefürchtete Wiener Kritiker Dr. Eduard Hanslick, Brahms-Verehrer und Wagner-Feind, beging mit seiner Rezension des Tschaikowski-Konzertes wohl einen seiner kapitalsten Irrtümer, Er schrieb unter anderem: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein herauszubringen, weiß ich nicht, wohl aber, daß Herr Brodski indem er es versuchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst. . . Tschai kowskis Violinkonzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, oa es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken (!) hört". Haarsträu bend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Komponist übrigens jederzeit auswendig aufsagen konnte, so sehr hatte er sich darüber geärgert, während das Konzert inzwischen längst zu den wenigen ganz großen Meisterwerken der konzertanten Violinliteratur zählt. Das Werk wird durch eine kraftvolle Männlichkeit im Ausdruck, durch eine straffe Rhythmik gekennzeichnet und ist betont musikantisch ohne Hintergründig keit, Pathos oder Schwermut. Die Quellen, aus denen Tschaikowski hier unter ande rem schöpfte, sind das Volkslied und der Volkstanz seiner Heimat. Betont durch sichtig ist die Instrumentation, die beispielsweise auf Posaunen verzichtet. Aus der Orchestereinleitung wächst das großartige, tänzerische Hauptthema des stim mungsmäßig einheitlichen ersten Satzes (Allegro moderato) heraus, das dem ersten Teil des Konzertes, teils im strahlenden Orchesterklang, teils in Umspie lungen der Solovioline, seine faszinierende Wirkung verleiht, während das zweite, lyrische Thema demgegenüber etwas in den Hintergrund tritt. Auf dem Höhe punkt des Satzes steht eine virtuose Kadenz des Soloinstrumentes, dem das ganze Konzert überhaupt höchst dankbare Aufgaben bietet. Der zweite Satz (Andante) trägt die Überschrift: Canzonetta. Kein Wunder darum, daß das Hauptthema innigen Liedcharakter besitzt und die Stimmung dieses Satzes weitgehend trägt, ohne dem geschmeidigen Seitenthema größeren Raum zu geben. Unmittelbar daran schließt sich das Finale (Allegro vivacissimo) an, das vom Solisten ein Höchstmaß an geigerischer Virtuosität in Kadenzen, Pas sagen, Flageoletts usw. verlangt. Das formale Schema des Satzes ist etwa mit ABABA zu umreißen. Beide Themen haben nationales russisches Profil. Das erste wächst aus der übermütigen Orchestereinleitung heraus, das zweite, tanz artige, wird von Baßquinten begleitet. Unaufhörlich stellt der Komponist die Themen vor, elegant und formgewandt variiert. Strahlend endet der tempera mentgeladene Schlußsatz des Konzertes, das zweifellos eine der überragendsten Kompositionen Tschaikowskis ist. Franz Schuberts 7. Sinfonie C-Dur sollte besser seine „Zehnte" genannt werden. Infolge der falschen Zählweise in der Gesamtausgabe der Schubertschen Werke hat man allgemein übersehen, daß zu einer 7. (D) und 8. (E) Sinfonie Skizzen vorliegen (die E-Dur-Sinfonie hat Felix Weingartner voll endet) und folglich die sogenannte „Unvollendete" in h-Moll — übrigens fast zur selben Zeit wie die Beethovensche „Neunte" entstanden — in der Numerie rung eigentlich die Nr. 9 (statt Nr. 8) sein müßte. Der englische Musik wissenschaftler M. J. Brown hat festgestellt, daß die große C-Dur-Sinfonie, eben die fälschlich als „Siebente" bezeichnete, identisch ist mit der lange ver geblich gesuchten „Gmundener oder Gasteiner Sinfonie". Die Entstehung des Werkes ist nach neuesten Erkenntnissen in den Jahren 1825 bis 1828 anzuneh men, ein Zeitraum, der die oft zu hörende Behauptung widerlegen dürfte, daß Schubert alles im Augenblick komponiert habe, ohne danach beharrlich zu fei len. Erst elf Jahre nach der Fertigstellung entdeckte Robert Schumann die Sin fonie unter Schuberts Nachlaß in Wien. 1840, zwölf Jahre nach dem Tode des Komponisten, erklang erstmalig das Werk, das dieser für seine bedeutendste Sinfonie hielt, unter der Stabführung Mendelssohns in Leipzig. Ihrer „himmlischen Längen" wegen nannte Schumann die „Siebente" einen „Roman in vier Bänden von Jean Paul" und schrieb über die Uraufführung: „Die Sinfonie hat unter uns gewirkt wie nach den Beethovenschen keine noch. Künstler und Kunstfreunde vereinigten sich zu ihrem Preise. Daß sie vergessen, übersehen werde, ist kein Bangen da, sie trägt den ewigen Jugendkeim in sich ... In dieser Sinfonie liegt mehr als bloßer schöner Gesang, mehr als bloßes Leid und Freud' verborgen, wie es die Musik schon hundertfältig ausge sprochen; sie führt uns in eine Region, wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern können." Unbegreiflich will es uns erscheinen, daß damals die meisten Hörer vor den Längen und Schwierigkeiten kapitulierten, während uns heute die Einmaligkeit des Werkes in der gesamten nachbeethovenschen Sinfonik voll bewußt geworden ist. Das, was die C-Dur-Sinfonie immer wieder zu einem nachhaltigen Erlebnis werden läßt, ist die rätselhafte Kraft ihrer Melodik, ist das Lebensstrotzend- Volkshafte ihres Ausdrucks. Die Melodik ist es, die den Riesenbau dieser Sin fonie trägt, nicht die Form, obwohl auch sie klassisch proportioniert ist. Man hat einmal treffend von der „pflanzenhaften Schönheit" dieses großartigen „Lieder zyklus ohne Worte" gesprochen, der nach Harry Goldschmidt die „Zeit der Tat und Kraft" — als poetische Idee — besingt, realistisch, national zwar, doch nicht im Sinne von Programmusik. Die C-Dur-Sinfonie zeigt Schubert auf der Höhe seiner Meisterschaft. Seine Tonsprache hat hier wohl die optimistischsten und heroischsten Elemente, deren sie fähig war, entfaltet. Eine breit angelegte langsame Einleitung steht am Beginn des ersten Satzes. Die Hörner stimmen einen ruhigen Gesang an, das Motto gleichsam, das gegen Schluß des Satzes in einer Steigerung wiederkehrt. Holzbläser, Streicher und Posaunen tragen diese Einleitung, die allmählich in das Allegro ma non troppo übergeht mit seinem rhythmisch gestrafften Streicherthema und seinen schwerelosen Holzbläsertriolen bei typischem C-Dur-Glanz. Dem Haupt- und Seitensatz folgt eine durchführungsartige Schlußgruppe. Wunderbar ist der Stimmungsreichtum dieses Satzes, das naturhafte Wachstum der einzelnen Melodien, die „tief seelisch getragene" Dynamik (H. Werle). Wie eine überdimensionale Liedform mutet der zweite Satz, das Andante, an, mit seiner begnadeten Fülle von musikalischen Gedanken, die episch verströmen, österreichisch-schwärmerisch, melancholisch, verträumt-innig, aber auch energisch und immer gesund, echt, zum Herzen gehend. Das Scherzo (Allegro vivace) gibt sich zunächst mit den rumpelnden Vierteln seines Hauptmotivs derb-polternd, aber auch heiter, graziös und mündet schließlich in eine herzhafte Wiener Ländlerweise, während das Trio in melodi schem Gesang schwelgt. Das Finale (Allegro vivace) umfaßt mehr als 1000 Takte. Immer und immer wieder stellt der Komponist seine musikalischen Einfälle vor, spürt ihren Ver wandlungsmöglichkeiten nach, ohne sinfonische Auseinandersetzungen herbeizu führen. Das epische, nur von Stimmungskontrasten getragene Ausmusizieren dominiert. Farbig ist der Orchesterklang, kühn die Harmonik. Dieses Finale zeigt Schubert auf dem Gipfel seiner Themenerfindung und -behandlung. Der Hörer wird von der Innigkeit des Gefühls und von der heldischen Kraft dieser Musik zutiefst berührt. Das ist der beglückende Eindruck, den die Sinfonie immer wieder hinterläßt. »HIHarnnoni Programmblätter der Dresdner Philharmonie — Spielzeit 1971/72 — Chefdirigent: Kurt Masur Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Die Einführung in das Vorspiel zu „Chowanstschina" von Mussorgski schrieb Erich Brüll Druck: veb polydruck, Werk 3 Pirna - 111-25-12 1,5 ItG 009-43-72 9. AUSSERORDENTLICHES KONZERT 1971/72