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Geschichte der Medizin Akademie-Echo Als Achtzehnjähriger im marxistischen Bildungszirkel Alexander Marsejew — Hygieniker, Epidemiologe, Hochschullehrer und Revolutionär Vor 100 Jahren, im April 1883, wurde der sowjetische Hygieniker und Epi demiologe Alexander MARSEJEW in Nishni-Nowgorod (Gorki) als Sohn eines Eisenbahnarbeiters und früheren Klein bauern geboren. Der frühe Verlust seiner Eltern überschattete die Kindheit, denn bereits mit 9 Jahren war er Vollwaise. Schule und Lehrer ersetzten ihm Familie und Eltern. Nach dem Besuch der Volks schule und Mittelschule wurde Marsejew auf Antrag seiner Lehrer Student am Moskauer Lehrerbildungsinstitut (1899). Ziel der Ausbildung an diesem Institut war die Heranbildung von Volksschul- lehrem im Zeitraum von drei Jahren. 1901 trat eine Wende im Leben Mar- sejews ein. Erstmalig las er Schriften der Klassiker des Marxismus, was zur Ände rung seiner politischen Ansichten bei trug. Die Mitarbeit in marxistischen Bil dungszirkeln und schließlich die Teil nahme an einer Arbeiterdemonstration hatten 1902 seine Verhaftung zur Folge, der sich ein Gefängnisaufenthalt und eine Verbannung mit Polizeiaufsicht anschlossen. Nach dem erfolgreichen Bemühen, in Rjasan und Twer das Gym nasium abzuschließen, studierte Mar sejew von 1904 bis 1911 in Moskau Medizin. Bereits während seines Studiums meldete er sich freiwillig zur Bekämp fung der damals besonders in Rußland grassierenden Cholera. Diese erfuhr gerade 1910 eine große Verbreitung. Es erkrankten in den insgesamt 72 rus sischen Gouvernements und Bezirken über 230000 Personen, von denen 109500 starben. Dieser Einsatz be stimmte dann auch den Charakter seiner weiteren Tätigkeit als Hygieniker und Epidemiologe, so im Bereich der Länd lichen Selbstverwaltungen und während des ersten Weltkrieges, wo er sogar als Hygieniker eines Armeekorps bzw. einer Armee diente. Unmittelbar nach der Oktoberrevolu tion war Marsejew in verantwortlichen Funktionen des zivilen und militärischen Bereichs an der Bekämpfung umfang reicher Seuchengeschehen beteiligt, von denen besonders das Fleckfieber und das Rückfallfieber die Existenz der jun gen Sowjetmacht ernsthaft bedrohten. Ab 1924 widmete sich Marsejew der hygienisch-epidemiologischen Aus- und Weiterbildung der Ärzte (Charkow, Alma-Ata, Kiew). Während des Großen Vaterländischen Krieges trugen seine reichen Erfahrun gen mit dazu bei, bedrohliche epidemi sche Lagen an den Fronten und im Hinterland der UdSSR zu vermeiden. Für seine Verdienste erfuhr er eine Vielzahl von Ehrungen durch den Sowjetstaat. Im Februar 1956 verstarb Alexander Mar sejew, dessen Schaffen nicht in Ver gessenheit geraten wird. Über 150 wis senschaftliche Veröffentlichungen und sein erst 1965 publiziertes Tagebuch sind Zeugnis seines bewegten Lebens und Wirkens für das Wohl des Volkes. MR Dr. Hippe/OA Dr. Rehe Ophthalmodouleia - das ist Augendienst Erstes deutschsprachiges Lehrbuch für Augenheilkunde vor 400 Jahren erschienen Im Frühjahr des Jahres 1583 gab der Hofokulist zu Dresden Georg Bartisch (1535—1606) sein Buch mit dem ein drucksvollen griechischen Titel „Oph thalmodouleia — das ist Augendienst" in einer Dresdner Werkstatt in Druck. Das 400jährige Jubiläum der Herausgabe dieses ersten deutschsprachigen Lehr buches für Augenheilkunde soll Anlaß sein, über einen Mann, seine Zeit und sein Werk zu berichten, dem wir uns zutiefst verpflichtet fühlen. Georg Bartisch wurde 1535 in Gräfen hain bei Königsbrück geboren, in einer Zeit, da sich die Menschen in Europa von mittelalterlichen Fesseln befreiten und Kunst, Geisteswissenschaften und auch Medizin sich zu neuer Blüte entfalteten. Aufbauend auf den Lehren der klas sischen griechischen und der arabischen Heilkunde wurden in der Renaissance die Grundlagen der modernen Medizin ge schaffen, besonders auch durch solche Gelehrte wie den Anatomen Andreas Vesalius (1514—1565), den Naturforscher und Arzt Paracelsus von Hohenheim (1494—1541), den großen Feldchirurgen Ambroise Par (1510—1590) u. a. So förderlich für die Heilkunde im all gemeinen die erneute Beschäftigung mit den griechischen Ärzten war, ein grie chisches Werk über die Augenheilkunde war leider nicht überliefert worden. An dererseits hatten die neuen Beobachtun gen in Anatomie, Physiologie und Optik zunächst keinen großen Einfluß auf die Entwicklung der Augenheilkunde, einmal weil sie vereinzelt blieben und zum an deren, weil sie von den Ärzten dieser Zeit nicht genügend aufgenommen und ver arbeitet wurden. Hier rächte sich vor allem die aus dem Mittelalter über nommene Abwendung der gelehrten Ärzte von der Ausübung der praktischen Augenheilkunde und von den Augen operationen. Diese blieben bis in das 18. Jahrhundert hinein in den Händen von Pfuschern, Barbieren und „niede ren" ungelehrten Wundärzten, Hand werkern im wahrsten Sinne des Wortes, denen dann auch die Neubegründung der Chirurgie und damit auch der prak tischen Augenheilkunde zu verdanken war. Im Lichte dieser Zeit muß das Leben und Werk von Georg Bartisch gesehen werden. Über seinen beruflichen Wer degang gibt der Autor in der Vorrede zum „Augendienst" selbst Auskunft: „Weil ich Unvermögenshalber auf hohen Schulen und zur Fakultät nicht habe befördert werden können, so habe ich mich zu der Chirurgie halten müssen. Zu der hab' ich Lust und Liebe stets gehabt ... Ich habe dieselbe Kunst von wohl gelehrten, vielerfahrenen Chirurgis, Oculisten und Schnittärzten mit treuem und angewandten Fleiß ... erlernt, was ich mit drei wahrhaftigen Lehrbriefen beweisen kann ... habe auch diese Kunst nun fast in die 36 Jahr cum summa experientia praktiziert Er bereiste dazu hauptsächlich sächsische, schlesi sche und böhmische Lande und war jedenfalls ein geschätzter und wohl auch glücklicher Wundarzt, was er mit von 59 verschiednen Magistraten ausgestellten und gesammelten Zeugnissen über 107 „wohlgelungene Kuren" während der Jahre 1568 bis 1583 belegte. Schon 1558 wurde er, gerade 23 Jahre alt, zum Sächsischen Hofoculisten ernannt. Mit 48 Jahren gab er dann im Mai 1983, nachdem er „gute Erfahrungen gewonnen ..auf eigene Kosten seinen „Augendienst" heraus, dessen wohl gestaltetes Titelblatt erkennen läßt, daß dieses Buch nicht nur zur Anleitung von Wundärzten und zur Belehrung von Ärzten verfaßt wurde, sondern auch für augenkranke Laien. In der Vorrede an den Kurfürsten von Sachsen nimmt er u. a. Stellung zu Gesundheit, Patienten sowie ärztlichem Berufsethos, die auch heute noch gewisse Gültigkeit besitzt. So schrieb er: „Gesundheit ist das höchste. Ein blinder Mann, ein armer Mann. ... Die Gesunden bedenken das nicht und achten den Augenarzt nicht ... Die Pati enten verlangen oftmals zu viel, andere wollen ohne Operationen durch Hand auflegen geheilt sein, andere leugnen die Besserung ab, um nicht zu zahlen. Doch tröstet etlicher frommer Leute Dank und ... das Bewußtsein, einen guten Namen zu hinterlassen ... Auf manche Arznei habe ich mehr gewendet als damit ver dient, meine Kranken auch von Anfang bis zu Ende abgewartet; nicht wie die reisenden Ärzte, welche hineinstechen und danach ihre Kranken einem Bauer oder Schusterknecht überlassen ...". Damit wandte sich Georg Bartisch ent schieden gegen alle die landfahrenden Starstecher und Kurpfuscher, die keine postoperative Therapie durchführten und vor dem Sichtbarwerden ihrer Miß erfolge weiterzogen. In den 13 Kapiteln des Buches gab Bartisch auf 548 Seiten mit 88 teils sehr interessanten Illustrationen einen Über blick über Erkenntnisstand und Praxis der Augenheilkunde im 16. Jahrhundert. Nach einer mystischen Erörterung über das Sehen und nach Darstellung der Anatomie des Kopfes und der Augen folgen Ausführungen über angeborene Augenleiden und über die „Blödigkeit des Gesichts und wie man sich vor Bril len bewahren und von ihnen entwöhnen kann". Obwohl zu jener Zeit grob gefertigte Brillenlinsen schon verwendet und zu sehr hohen Preisen gehandelt wurden, vertrat Georg Bartisch noch die Auffassung, daß Brillen schädlich seien und daß man viel eher ein Pulver ein nehmen, mit einem Augenwasser die Augen auswaschen oder einen speziel len Edelstein anschauen sollte. Der fol genden Darstellung verschiedener Star formen und einer Anweisung zum Starstechen wurden exakte Hinweise auf das notwendige Instrumentarium bei gefügt. Ferner wurde von Entzündungen des Augapfels, von den Gewächsen am Augenlid, Erkrankungen der Wimpern und Verletzungen des Auges berichtet. Georg Bartisch propagierte als erster die Herausnahme eines ganzen Augapfels (Enucleatio bulbi) bei bestimmten Augenerkrankungen und entwickelte dazu spezielle Instrumente. Die Titelseite des Buches — in der Sächsischen Landesbibliothek ist noch ein Exemplar vorhanden Foto: Silvia Seidel Neben diesen fortschrittlichen Ideen war Bartisch jedoch gleichzeitig noch mittelalterlicher Mystik verbunden. So löste er sich im letzten Teil seines Buches vollständig von der naturwissenschaft lichen Medizin und befaßte sich hier mit allerlei wundersamen Heilmitteln gegen Augenschäden, die durch Zauber, Hexen, Unholde und Teufelswerke dem Menschen widerfuhren. Befangen im Aberglauben seiner Zeit war Georg Bartisch ein tüchtiger, red licher und strebsamer Mann, der als guter Beobachter das Wesen vieler Augenerkrankungen erfaßte und als geschickter Operateur viele neue augen ärztliche Instrumente und Operationen einführte. Obgleich er mit seinem „Augendienst" die Augenheilkunde sei ner Zeit nicht aus ihrer Misere heraus zuführen vermochte,'war er dennoch der erste, der ein Handbuch über diese in deutscher Sprache verfaßte. Damit gab er seinen Zeitgenossen einen oph- thalmologischen „Leitfaden", dessen Bedeutung durch einen unveränderten Nachdruck 100 Jahre später unterstri chen wurde, und uns einen hervorra genden Einblick in die Augenheilkunde der Renaissance in Deutschland. MR Prof. Dr. sc. med. Emst Marr Dr. med. Andreas Walther