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Ottendorfer Zeitung : 15.07.1903
- Erscheinungsdatum
- 1903-07-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1811457398-190307155
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1811457398-19030715
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1811457398-19030715
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Ottendorfer Zeitung
-
Jahr
1903
-
Monat
1903-07
- Tag 1903-07-15
-
Monat
1903-07
-
Jahr
1903
- Titel
- Ottendorfer Zeitung : 15.07.1903
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politische K^NcilcbLU. Deutschland. *Der Aufschub, den die Nordlands- reise des Kaisers erfahren hatte, war durch das prächtige Wetter bedingt, das der Kaiser mit seiner Gemahlin zu Segelfahrten an der Ostseeküste ausnutzte. * DerKaiser soll, wie nach der ,Pos. Ztg/ aus privater amerikanischer Quelle verlautet, bei einem kürzlichen Luncheon an Bord der zur Kieler Woche erschienenen Jacht Vanderbilts gegenüber seinem Gastgeber anläßlich einer Umerhakung über den Ausfall der Neichs- tagswahlen sich dahin ausgesprochen haben, „daß er nicht daran denke, den Reichstag auf zulösen, selbst dann nicht, wenn die neuen Militärforderungen nicht durchgehen sollten, was kaum zu befürchten wäre. Er, der Kaiser, habe das Anwachsen der sozialdemokrati schen Stimmen vorausgesehen, hege aber dieserhalb keine Besorgnis für die parlamen tarische oder Weltmachtstellung Deutschlands. Was ihm bei gewissen, der sozialdemokratischen Partei angehörigen Leuten, unsympathisch sei, wären die g e h äs s i g e n A n g ri f f e aus her vorragende Männer Deutschlands, die Besseres um ihr Land verdient hätten." *Jm Reichsamt des Innern und Reichs schatzamt sollen nunmehr auch die Vorarbeiten für die Handelsverträge mitJtalien undRumänien in Angriff genommen worden sein. Damit wäre der Kreis jener Länder, mit welchen das Deutsche Reich bisher Tarif verträge hatte, abgeschloffen. Späterhin ist auch eine Revision der reinen Meistbe günstigungsverträge, sowie eine Prü fung der handelspolitischen Beziehungen zu solchen Ländern, zu denen das Deutsche Reich in keinem Handelsvertragsverhältnis steht, in Aussicht genommen. *Die Mitteilung, daß die Etats-Ent würfe der einzelnenReichsressorts für das Rechnungsjahr 1904 der Reichsfinanz- verwalmng in sechs bis acht Wochen zugehen würden, ist nicht ganz richtig. Es ist für das Reich ebenso wie für Preußen ein Termin fest gesetzt, bis zu dem die Forderungen der ver schiedenen Verwaltungen für das nächste Etats jahr der Finanzverwaltung eingereicht sein müssen. In Preußen ist dieser Termin der 1. September, im Reiche der 1. August. Bis zu diesem, also in etwa drei Wochen, müssen die Neuforderungen der Einzelrefforts dem Reichsschatzamt mitgeteilt werden. * Die in Oberhof versammelt gewesenen Vertreter der an dem gemeinsamen thüringi- schen Oberlandesgericht in Jena beteiligten Staaten haben der Erneuerung der im Jahre 1904 ablaufenden Verträge wegen dieses Gerichtshofes zugestimmt. *Die bayrische Wahlgesetz-No velle, mit der sich der Landtag in der nächsten Session beschäftigen wird, soll das geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht bringen, wobei das Alter für die WahlmüudiH- keit weiter hinausgeschoben werden dürfte, wie bisher. Österreich-Ungarn. *Jm ungarischen Wehrausschuffe erklärte der Honvedminister Kolosvary, daß das neue Wehr gesetz auf der zweijährigen aktiven Dienstzeit beruhen werde; nur bei der Kavallerie und der reitenden Artillerie werde die dreijährige Dienstzeit aufrecht erhalten werden. Bei der Marine werde die Dienstzeit von vier Jahren auf drei herabgesetzt. Frankreich. * Der ehemalige Finanzminister Caillault, dem die Kammer den Bericht über Wasserstraßen übertrug, begab sich mit Charles Roux, der im Vorjahre vom deutschen Kaiser empfangen wurde, zu Kanal st udien nach Berlin. England. * Zwischen König Eduard und dem Präsidenten Loubet, der wieder in Paris eingetroffen ist, find verbindliche De- peschen gewechselt worden. * Bezüglich der eigenartigen Haltung Eng lands gegenüber dem serbisch enThron- wechsel war in einem auswärtigen Blatt behauptet worden, sie sei auf den Umstand zurückzuführen, daß die englische Regierung tatsächliche Beweise von der Mitwissen schaft des Königs Peter an der Ver schwörung, welcher der frühere König zum Opfer fiel, besitze. Das Londoner Kabinett habe von diesen Beweisen auch anderen Mächten bereits Mitteilung gemacht, und wenn der Bericht des nach London bemfenen englischen Gesandten in Belgrad die Mitwissenschaft bestätige, so werde England dem neuen Könige die Anerkennung versagen. Hierzu wird der ,Pol. Korr? Ms London geschrieben: „Diese Behauptungen be ruhen auf vollständig irrigen An nahmen, und es trifft kein einziger der ange führten Punkte zu." Italien. * Nachdem am Freitag vormittag Papst Leo abermals sich einer Operation hatte unterziehen müssen, bei der ihm 1080 Gramm Wasser aus der Brust abgelassen wurde, fühlte sich der Leidende wiederum leichter. In dessen konnten die Ärzte keine Hoffnung mehr geben, da die NierentStigkeit ungenügend sei und der entzündliche Zustand der Lunge an dauere. Dazu tritt, daß die Nahrungsaufnahme nicht genügt, um die durch den Krankheits prozeß sich verzehrenden Körperkräfte zu er setzen. * Der Kongregationssekretär Volpini, den am Mittwoch im Vorzimmer des Papstes der Schlag rührte, ist am Donnerstag ge storben. Er hatte gerade, so wird erzählt, den Wortlaut des Dokumentes aufgesetzt, durch das das Konklave zusammcnberufen wird, als er zusammenbrach. *Nach gepflogenem Meinungsaustausch sind die französische und die italienische Regierung zu der Überzeugung gelangt, daß es durchaus angemessensei, im Falle des Todes des Papstes die Reise König Viktor Emanuels aufzuschieben. Sie wird in diesem Falle wahrscheinlich in den September verlegt werden. Balkanstaaten. * Der AlbanesenchefRizaBei, der vor zwei Jahren nach Konstantinopel berufen und zum Obersten ernannt worden war und sich fest kurzem wieder in der türkischen Haupt stadt befand, ist vorige Woche in seiner Woh nung des Nachts ausgehoben und sofort auf ein zu diesem Zwecke bereitstehendes Schiff gebracht worden, das ihn über Alexandrien in die Verbannung nach Aleppo zu führen hat. Mit ihm zugleich wurden sein Sohn, ein Flügel adjutant des Sultans, und dessen Frau ver bannt. Diese Maßregeln sollen angeblich nicht durchpolitischeUrsachen veranlaßt sein. *Der in der Belgrader Blutnacht schwer verwundete Minister des Innern Welimir Teodorowitsch beabsichtigt, gegen seine Angreifer in der Nacht vom 11. Juni d. die Anklage wegen versuchten Mordes zu erheben. Amerika. *Roosevelts Aussichten auf die Präsidentschafts-Kandidatur sind durch die große Rundreise, die er in den letzten Monaten gemacht hat, ganz außerordentlich ge stiegen. Wie Cleveland seinerzeit es verstand, so viele Republikaner zu seinen Gunsten zu be einflussen, daß sie bei seiner zweiten Kandidatur für ihn den Ausschlag gaben, so spricht man jetzt bereits allgemein von „Roosevelt-Demo kraten", die ungeachtet ihrer demokratischen Parteizugehörigkeit mit aller Entschiedenheit für Roosevelt eintreten wollen. * In Venezuela ist doch noch nicht alles in Ordnung. Aus Trinidad wird neuerdings gemeldet, daß nach Telegrammen Ms Ciudad- Bolivar Castros Blockade-Schiffe einige nord amerikanische Handelsfahrzeuge beschlagnahmten. Dem die Stadt Ciudad- Bolivar haltenden Revolutions-General Rolando hat Castro den Gouverneursposten der Provinz angeboten, falls er sich und die Stadt übergebe. (Das wird er wohl bleiben lassen, denn Castro hält nie Wort.) Asten. *Die o st asiatischen Verhältnisse sind zweifellos insofern gespannt, als einzelne Maßregeln und Ansprüche Rußlands in der Mandschurei und Korea bei anderen Mächten, vor allem England, Japan und den Ver. Staaten Mißbehagen, Besorgnisse und hier und da Gegenvorstellungen Hervorrufen, indes liegt bis jetzt kein irgendwie bedrohliches Symptom vor, das auf die Möglichkeit einer ernsteren Zu spitzung der Lage hindeutete. Vielmehr meldet auch das ,Reutersche BüreaB aus Schanghai, die Beratung des Kriegsministers Kuropatkin mit den russischen Diplomaten werde wahrschein lich zugunsten der Witteschen Friedenspolitik ausfallen. „Mpenkuren" in I^onäon. d. Unter diesem Titel berichtet ein Londoner Blatt: Wenn auch die medizinische Wissenschaft viele und große Wunder aufzuweisen hat, so wird es doch Erstaunen erregen, daß mitten in dem feuchten russigen London Schwindsüchtige die reine trockne Luft von Davos und den höheren Alpen atmen können. Fitzroy-square und seine Umgebung erinnern zwar nicht an Edel weiß oder an ewigen Schnee; aber doch stellt hier eine „Alpenkur" die Gesundheit armer Leute wieder her, die auch in ihren kühnsten Träumen niemals an einen Besuch dieser Höhen dachten. Der Leiter des „Sauerstoff-Kranken hauses", Dr. George Stoker, war während des Zulukrieges im Lazarett tätig, und es gehörte mit zu seinen Pflichten, die verwundeten Zulus zu pflegen. Diese weigerten sich indessen geradezu, ihre Wunden nach europäischen Grund sätzen behandeln zu lasten. Sie rissen alle Verbände ab, als ob sie giftig wären. Es war ein alter afrikanischer Brauch, die Verwundeten auf die höchsten Berggipfel zu tragen, ihre Wunden dort der Lust auszusetzen und sie nur von Zeit zu Zeit zu reinigen. Die Wirkung war wunderbar, das Fleisch heilte mit großer Schnelligkeit. Bei seiner Rückkehr nach London überlegte Dr. Stoker, wie dieses einfache, ver ständige und höchst befriedigende System, reine Luft bei offenen Wunden anzuwenden, den Be dingungen des Londoner Lebens und Klimas angepaßt werden könnte. Schließlich ersann er ein System, bei dem eine reine, stark mit Sauerstoff gesättigte Atmosphäre um den er krankten Körperteil erhalten werden konnte, der in einem Kasten oder Behältnis eingeschlossen wurde. Die durch diese Sauerstoffbehandlung er haltenen Ergebnisse zeigen die Klugheit der Zulus, die nuraufreineLuft und eineguteKonstitution ver trauen. DieArmenpflegervonWilles erklären z. B., daß sie aus ihrer persönlichen Erfahrung wissen, daß bis dahin für unheilbar gehaltene Kranke das Institut gesund und wieder arbeitsfähig verlassen haben. Lupusfälle haben bei Sauerstoffbehand lung ausgezeichnete Resultate gehabt. Daun entstand die Frage, ob man das Prinzip nicht weiter ausdehnen könne. Bei der letzten General versammlung lenkte der Herzog von Argyll, dessen Gemahlin, die Prinzessin Luise, Patrouin des Krankenhauses ist, die Aufmerksamkeit dar auf, daß es wünschenswert wäre, Räume zur Behandlung Schwindsüchtiger zu errichten. Der Plan bestand darin, einen luftdichten Raum zu bauen, in dem der Kranke einen großen Teil von je 24 Stunden zubringen könnte. In diesen Ranm würde Luft hineingeleitet, die die für große Höhen charakteristischen Eigenschaften be saß, wo man mit Erfolg das „Freiluftsystem" angewandt hatte. Die geatmete Luft wird durch ein FlügelgeblLse eingezogen und, ehe sie den Patienten erreicht, getrocknet, gefiltert, ozonisiert und verdünnt. Dieses System hat schon bemerkenswerte Ergebnisse gezeitigt, die reichlich eine jetzt zum erstenmal ausgeführte Aus dehnung dieser Behandlung rechtfertigen. Diese Räume, die in jedem Zimmer eingerichtet werden können, wo Elektrizität zur Bearbeitung des Gebläses vorhanden ist, sind aus Spiegelglas gebaut, 7 Fuß lang 5 Fuß breit und 7 Fuß hoch. Von uncl fern. Der Prinzessin Luise ist nach den mit dem Dresdener Hofe gemachten Vereinbarungen der Aufenthalt in Deutschland und eines Teiles von Österreich nicht gestattet. Bezüglich des Verkehrs mit ihren älteren Kindern find ihr irgendwelche Zugeständnisse nicht gemacht worden. Das jüngste Kind bleibt ihr nur bis auf weiteres. Hieraus läßt sich ersehen, daß sich der Dresdener Hof einen wesentlichen Einfluß auf das fernere Schicksal der Prinzessin Vorbe halten hat. Das Verhältnis zu Giron ist end gültig gelöst. Das weinende Berlin. Donnerstag vor mittag konnte man Berlin wirklich in großen Massen weinen sehen. In der Zimmerst raße war auf einem Transpottwagen ein großer Glasballon mit Salmiakgeist geplatzt und die Flüssigkeit ergoß sich die ganze Straße entlang. Unwillkürlich griffen die Paffanten nach ihren Taschentüchern und rieben sich die Augen, aus denen sich Ströme von Tränen ergossen. Die neu gierig gewordenen Bewohner öffneten die Fenster, um nach der Ursache des ungewöhnlichen Vor ganges zu forschen; aber auch ihnen erging es nia-t anders, auch sie mußten ihren Tribut an Tränen entrichten. Die Zimmerftraße war da durch in recht schlechten Geruch gekommen, und es dauerte mehrere Stunden, ehe sich der starke Salmiakgeruch verflüchtigte. Der Erblasser, der Herrn Bebel neuer dings 400 000 Mk. vermacht hat, soll, wie das ,B. T/ meldet, irrsinnig gewesen sein. Außer dem kämen als Erben noch zwei Brüder, eine Schwester und zwei Kinder einer verstorbenen Schwester, in Betracht. Unter diesen Umständen dürfte Herr Bebel wohl auf den Antritt der Erbschaft verzichten. Wenigstens hatte der ,Vorwärts' neulich versichert, Herr Bebel würde die Erbschaft nur antreten, falls er nicht die Rechte natürlicher Erben dadurch verkürze. Eine gefährliche Luftballonfahrt. In eine höchst gefährliche Lage geriet am Don nerstag ein Ballon der Luftschifferabteilung bei Heegermühle. Durch plötzlich auftretenden Sturm war der in der Richtung von Berlin kommende Luftballon mit großer Gewalt nieder gedrückt worden, so daß der Korb bereits die Kronen der Bäume in der Biesenthaler Forst streifte; die Luftschiffer schwebten hierbei in großer Lebensgefahr; denn der Ballon schleifte eine weite Strecke dicht über der Waldung dahin. Von allen Seiten eilten Leute, die auf den Äckern beschäftigt waren, hinzu, um an baumfreien Stellen das vom Luftballon herab- gelasfene Tau zu ergreifen; endlich gelang dies. Der Luftballon hatte inzwischen aber die ge fährlichsten Stellen überwunden und hatte weit hin freies Terrain vor sich; die Luftschiffer liefen daher den Leuten zu, das Tau wieder loszulaffen. Nachdem sie mehrere Säcke Sand geleert hatten, erhob sich der Luftballon wieder und flog bald pfeilschnell nach Nordosten weiter. Zu Tode geschleift. In Materborn bei Kleve banden Kinder einen dreijährigen Spiel gefährten mit einem Strick an eine Kuh fest. Das Tier wurde plötzlich wild und rannte mit dem Kinde davon, das man später schrecklich ver stümmelt tot auffand. Zur Trinkgelderfrage ist vom Magistrat von Nkmberg ein bemerkenswerter Beschluß ge faßt worden. Es ist dort jüngster Tage die Straßenbahn städtisch geworden und es hat nun der Magistrat in die Dienstvorschrift für das Personal der Straßenbahn ausdrücklich das Verbot der Annahme von Trinkgeldern aus genommen. Der Magistrat ist dabei von der Erwägung ausgegangen, daß der Schaffner und Wagenführer als öffentliche, städtische Beamte in Pflicht genommen und mit polizeilicher Ge walt im Betriebe der Straßenbahn ausgestaitet sind. Als solche machen sie sich durch die An nahme von Trinkgeldern strasbar. Eine bajuvarische Kraftnatur, über die staunenswerte Leistung eines Greises be richten bayrische Blätter. Ein 85 jähriger Kleiu- bauergutsbesitzer, der zur Sonnenwendfeier nach Lichtenau gekommen war, blieb dort 20 Stunden sitzen und konsumierte während dieser Zeit, ohne einen Bissen zu essen, nicht weniger als 20 Liter Bier. Dabei beteiligte er sich auch mehreremale am Tanze. Ohne berauscht oder auch nur er mattet zu sein, trat er dann den Heimweg nach seinem Dorfe an. K Vergeltung. 1 0) Kriminalroman von A v. Hahn. (Fvr! ttzu^go „Was Sie auch für Geschichten machen! Wieder so eine Landstreicherin wie damals wohl, die morgens unter Mtnahme meiner Jacke verschwunden war, was?" Neugierig trat Frau Brand m den Schlitten heran. „So wie vorhin, Karol, so — halte sie recht sest." „Aber, Herr Martin," wehrte die Haus hälterin ärgerlich ab, „lassen Sie doch das Weib runter ins Dorf schaffen, was sollen wir denn jetzt in später Nacht mit ihr beginnen? Ich bitte Sie, Herr Martin, seien Sie doch vernünftig." „Ich bitte Sie, Frau Brand, seien Sie doch vernünftig," äffte Herr Martin lachend nach, hob mit Unterstützung des Kneckts die Erstarrte vom Wagen und trug sie an der brummenden Wirtschafterin vorüber ins Haus. „Sorgen Sie, daß sofort ein tüchtiges Feuer in der grünen Stube brennt, aber ein bißchen fix!" „Was?" stellte fich Frau Brand mit einge stemmten Armen vor ihren Herrn hin, „also ,auch noch in unsere Zimmer wollen Sie das Geschöpf bringen? Nä das fehlte mir noch — sie' kommt in die Kammer." „Sie kommt in die grüne Stube!" sagte Herr Martin bestimmt. „Heize dort sofort em, Marinka. Nun machen Sie uns die Tür auf, Brandchen, die Frau ist schwer, mir werden die Arme lahm." „Das geschieht Ihnen schon recht," rief die Alte giftig, huschte aber doch voraus und öffnete die Tür eines Kabinetts. Unter den verschiedensten Ach und Wehs der gekränkten Haushälterin wurde die Leblose auf ein altes, verschabtes Sofa gelegt. „Was fehlt denn der Frau?" fragte Frau Brand jetzt doch bang und besorgt und schaute mitleidig auf die reglose Gestalt, während fich die Magd an dem riesigen Kachelofen zu tun machte. „Sie brauchen sich nicht zu ängstigen," sagte der Hausherr beruhigend, „eine ansteckende Krankheit hat sie nicht. Wir fanden sie im Schnee, sie ist nur von der Kälte erstarrt, so bald sie warm wird, kommt sie auch wieder zu fich. Da" — schrie er lebhaft auf, so daß Frau Brand ganz erschrocken zusammen fuhr — „da — sie regt sich ja schon!" Er beugte fich über die blasse Frau, die das Haupt langsam zur Seite gewandt hatte. „Wie ist Euch zu Mute, Frau, wißt Ihr, wo Ihr seid?" Die Kranke antwortete nicht. „Holen Sie etwas Wein, Frau Brand — und du, Marinka, löse ihr die Schnuruwka (Miedettaille), ich kann mit diesen Bändern und Haken nicht zurechtkommen. Nachher kannst du die Betten am Feuer erwärmen." Die Magd kam willig heran und half mit Unterstützung der Haushälterin, die mit einer Kristallflasche und einem Glase zurückgekommen war, der Erstarrten die Taille aufschnüren. Dann hob sie die Kranke auf Geheiß des Haus herrn etwas höher auf die Seitenlehne des Sosas und hüllte sie in die Decke, die der Knecht, der Weisung gemäß, hereingebracht hatte. „So, jetzt mach' das Bett zurecht, Marinka, und wir wollen ihr etwas Wein einslößen." „Wollen Sie sie denn wirklich hier be halten?" wars Frau Brand im letzten Wider stand hin. „Ich denke, wenn sie sich besser er holt hat, fährt Karol sie nach der Mühle." Sie hatte inzwischen auch die Mühlenpächterin in der Kranken erkannt. „Wissen Sie, ich hab' Sie eigentlich für gemütvoller gehalten," entgegnete Herr Martin vorwurfsvoll auf den letzten Einwand seiner Haushälterin. .„Das ist also die vielgerühmte Weichmütigkeit'der Evastöchter; wenn's ihnen bequemer erscheint, dann lassen sie in ihrer christlichen Barmherzigkeit einen unglücklichen Mitmenschen ruhig zugrunde gehen. O, Ihr Weiber! Ihr Weiber! Kleinlich gesinntes, jammervolles Geschlecht!" „Nein, so etwas!" rief Frau Brand be leidigt, „als wenn man ein Unmensch wäre, — ich habe doch auch mein Herz — und mein Gemüt — aber —" „Aber immer, wenn's Ihnen gerade paßt!" „Na, Sie sind auch gerade der rechte Jakob," warf Frau Brand hämisch hin. „Den armen Leiermann neulich, den haben Sie recht freund lich — angeschrieen —" „Weil der Kerl nach Branntwein roch." „Aber ich — ich habe es gut gemacht," fuhr Frau Brand unbeirrt fort, in der redlichen Ab sicht, ihre Tat ins beste Licht zu stellen, „eine warme Suppe habe ich dem armen Mann raus geschickt —" „Es war wohl die angebrannte?" Frau Brand schwieg auf diesen letzten Aus fall ihres rücksichtslosen Herrn. Mit zusammen gekniffenen Lippen sah sie zu, wie Herr Martin die Kristallflasche vom Tische nahm, das Glas füllte und es den Lippen der bleichen Frau näherte, die mit großen, starren Augen und halb offenem Munde in dem Sofa lehnte. „So, noch ein Schlückchen — und nun — den Rest," ermunterte sie unwillkürlich das Tun ihres Herrn, über ihrer Teilnahme den Groll vergessend. „Na, ist das Bessere doch zum Siege ge langt?" lächelte Herr Martin gutmütig, wäh rend er der Kranken, die den Sherry willig hinunterschluckte, die letzten Tropfen vorsichtig einflößte. „Nun, seien Sie wieder gut!" Er klopfte die Haushälterin auf die Schulter, die sich wieder beleidigt abgewandt hatte. Marinka hatte unterdessen die letzten Bett stücke im Nebenzimmer angewärmt. Frau Brand machte Miene, sich an dem Hinübertragen der Kranken zu beteiligen. Herr Martin wehrte dem aber ab. „Nein, nein, Sie sind nicht kräftig genug, Marinka und ich werden schon allein fertig." Mit unbeholfener Sorgsamkeit bettete er die noch immer regungslose Frau, deren Brust jetzt schon stärkere Atemzüge hoben und senkten, aus das Lager und wies die Magd an, ihr die Klei dungsstücke abzustreifen. „Jetzt habe ich aber einen barbarischen Hun ger," sagte er dann, fich reckend; kommen Sie, Frau Brand."
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